Alexander Nikolajewitsch Afanassjew

Alexander Nikolajewitsch Afanassjew

Alexander Nikolajewitsch Afanassjew (russisch Александр Николаевич Афанасьев; * 11. Julijul. / 23. Juli 1826greg. in Bogutschar im Gouvernement Woronesch; † 23. Septemberjul. / 5. Oktober 1871greg. in Moskau) war ein russischer Slawist und Ethnograph, der fast 600 russische Märchen und Volksmärchen veröffentlichte, die eine der größten Sammlungen der internationalen Volkskunde gilt. Die erste Ausgabe seiner Märchen erschien zwischen 1855 und 1867 in einer Ausgabe von acht Bänden. Seine Bedeutung für das Genre Märchen ist vergleichbar mit der Bedeutung der Brüder Grimm für die deutschen Volksmärchen.

Leben

Alexander Nikolajewitsch Afanassjew wurde in der Stadt Bogutschar im Gouvernement Woronesch des russischen Reichs (heute Russland) in eine Familie mit bescheidenen Mitteln hineingeboren. Seine Mutter Warwara Afanassjewa stammte aus einfachen Verhältnissen. Alexander war ihr siebtes Kind. Sie erkrankte nach dessen Geburt und starb am Jahresende. Die Kinder wurden von ihrem Vater Nikolai Iwanowitsch Afanassjew großgezogen, einem ranghohen Mitarbeiter der Staatsverwaltung, der als Ermittler der Staatsanwaltschaft arbeitete und den Alexander als einen Mann mit hohen intellektuellen und moralischen Qualitäten beschrieb, der „zu Recht als der klügste Mensch im ganzen Ujesd bezeichnet werden kann“.

Nach drei Jahren zog die Familie nach Bobrow (Oblast Woronesch), wo Alexander seine Kindheit verbrachte. Schon früh zeigte er große Lesebegeisterung, da er Zugang zur gut ausgestatteten Bibliothek seines Großvaters (Mitglied der russischen Bibelgesellschaft) und zu verschiedenen Zeitschriften hatte. 1837 wurde er auf das Knabengymnasium von Woronesch geschickt. Im Jahr 1844 trat er in die juristische Fakultät der Universität Moskau ein, die er 1848 abschloss. Dort besuchte er die Vorlesungen von Konstantin Kawelin, Timofei Granowski, Sergei Solowjow, Stepan Shevyryov, Ossip Bodjanski und Fjodor Buslajew. Er veröffentlichte eine Reihe von Artikeln in den Zeitschriften Sowremennik und Otetschestwennyje Sapski über die Staatswirtschaft zur Zeit Peters des Großen, über die Pskower Gerichtsverfassung und andere Themen. Obwohl er einer der vielversprechendsten Studenten war, gelang es ihm nicht, Professor zu werden. Der konservative Minister für Volksaufklärung, Graf Sergei Uwarow, der die Abschlussprüfungen beaufsichtigte, griff Afanassjews Aufsatz an, der die Rolle der Autokratie bei der Entwicklung des russischen Strafrechtes im 16. und 17. Jahrhundert untersuchte.

1849 verhalf ihm Konstantin Kawelin zu einer Stelle in der Moskauer Hauptarchivdirektion des Außenministeriums des russischen Reiches, wo Afanassjew 13 Jahre lang arbeitete. In dieser Zeit lernte er viele Menschen aus Wissenschaft und Kultur kennen und sammelte viele alte Bücher und Manuskripte, die schließlich eine große Bibliothek bildeten. Seine Artikel, Rezensionen, ethnografischen und historischen Arbeiten erschienen regelmäßig in den führenden russischen Zeitschriften, Zeitungen, Almanachen und wissenschaftlichen Periodika. Seine Aufsätze über die russische Satire des 18. Jahrhunderts und über die Werke prominenter Schriftsteller und Verleger mündeten in einer 1859 erschienenen Monographie Russische Satirezeitschriften 1769–1774 und erschienen in der Otetschestwennyje Sapski (Nr. 3 und 4 im Jahr 1855, Nr. 6 im Jahr 1859).

Im Jahr 1855 leitete er die staatliche Kommission, die für die Veröffentlichung von juristischen, historischen und literarischen Werken zuständig war. Von 1858 bis 1861 arbeitete er als Hauptherausgeber der kurzlebigen Zeitschrift Bibliographische Notizen, welche eigentlich als Deckmantel für die Sammlung von Materialien zensierter und revolutionärer Literatur für den Exil-Sozialisten Alexander Herzen diente. Im Jahr 1862 verhafteten die Behörden den Anhänger der Narodniki Nikolai Tschernyschewski, während andere Personen, darunter auch Afanassjew, unter Verdacht gerieten. Seine Wohnung wurde durchsucht. Obwohl nichts Belastendes gefunden wurde, verlor er seine Stelle im Moskauer Archiv.

Nach seiner Entlassung konnte er mehrere Jahre lang keine feste Arbeit finden und musste seine Bibliothek verkaufen, um seine Familie zu ernähren. Danach arbeitete er als Sekretär für die Moskauer Stadtduma und beim Moskauer Kongress der Friedensrichter, während er seine ethnografischen Forschungen fortsetzte. Er schrieb ein umfangreiches theoretisches Werk (drei Bände mit jeweils 700 Seiten) Die poetische Sicht der Slawen auf die Natur, welches zwischen 1865 und 1869 erschien. Im Jahr 1870 wurden seine russischen Kindermärchen veröffentlicht.

Afanassjew verbrachte seine letzten Lebensjahre in Armut. Er starb in Moskau im Alter von 45 Jahren an Tuberkulose. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof von Pjatnizkoje.

Arbeit

Afanassjew begann sich in den 1850er Jahren für alte russische und slawische Traditionen und Geschichten zu interessieren („Volkskunde“ als Studienfach gab es damals noch nicht). Seine frühen wissenschaftlichen Arbeiten, darunter Zauberer und Hexe (1851) und Heidnische Legenden der Insel Buyan (1858) stützten sich auf die sogenannte mythologische Schule, die Legenden und Erzählungen als Informationsquelle für das Studium der älteren heidnischen Mythologie betrachteten (Hauptwerk Die poetische Naturbetrachtung der Slawen, 1865–1869). In einer solchen Interpretation betrachtete er das Märchen Die schöne Wassilissa als Darstellung des Konfliktes zwischen dem Sonnenlicht (Wassilissa), dem Sturm (ihre Stiefmutter) und den dunklen Wolken (ihre Stiefschwestern). Als Archivar gab er seinem Werk eine Fülle von Informationen, Belegen, Dokumenten, und Passagen aus alten Chroniken mit, die sich auf die altrussische Kultur, Geschichte und Tradition, aber auch auf andere indoeuropäische Sprachen und deren Folklore und Legenden, insbesondere auf deutsche Traditionen beziehen. (Er beherrschte das Deutsche ebenso perfekt wie alle slawischen und alten Sprachen.)

In den frühen 1850er-Jahren, als er bereits für seine Artikel bekannt war, begann er über eine Sammlung von Volksmärchen nachzudenken. Daraufhin wurde er von der Russischen Geographischen Gesellschaft (Sektion Ethnographie) darum gebeten, das Archiv der Volksmärchen zu öffnen, das sich seit etwa zehn Jahren im Besitz der Gesellschaft befand. Dieses Archiv stand am Anfang seiner Sammlung. Afanassjev wählte 74 Erzählungen daraus aus. Er fügte ihnen aus der großen Sammlung von Wladimir Dal (ca. 1000 Texte) 148 Nummern hinzu, sowie aus seiner eigenen Sammlung ca. zehn Volksmärchen aus der Region Woronesch und einige andere Sammlungen. Außerdem fügte er bereits veröffentlichte Erzählungen (wie Marja Morevna, Der Feuervogel, Der graue Wolf u. a.), einige Erzählungen aus epischen Liedern, Geschichten über die Toten, einige mittelalterliche satirische Texte (wie Der Satz von Semiaka) und Anekdoten hinzu.

Seinen herausragenden Platz in der Geschichte der slawischen Philologie verdankt er vor allem seiner Publikation der russischen Märchen (Народные русские сказки), die zwischen 1855 und 1863 erschienen sind. Aus wissenschaftlicher Sicht geht seine Sammlung noch weiter. Er hatte viele Helfer und er versuchte, die Quelle und den Ort anzugeben, an dem das Märchen erzählt wurde. Er versuchte jedoch nie, eine endgültige Textversion eines Volksmärchens zu etablieren: Wenn er etwa sieben Versionen eines Märchentyps beisammen hatte, bearbeitete er sie alle gleichermaßen (so zum Beispiel bei Der Feuervogel). Im Jahr 1860 löste die Veröffentlichung der Русские народные легенды („Russische Volkslegenden“, 1860), einer Sammlung von Volksmärchen aus dem ganzen Land, die auf dem Leben Jesu und christlicher Heiliger basieren, einen Skandal aus. Diese Texte bestanden aus einer einzigartiger Mischung von Christentum, Heidentum und sozialen Untertönen. Einige von ihnen wurden vom Allerheiligsten Synod als unorthodox eingestuft, und das Buch wurde verboten. Er bereitete auch Заветные сказки („Beliebte Geschichten“) vor, eine Zusammenstellung redigierter Erzählungen aus Русские народные легенды sowie anderer potenziell umstrittener Geschichten, die wegen ihrer obszönen oder antiklerikalen Thematik in der Schweiz anonym als „Verbotene russische Geschichten“ veröffentlicht wurden.

Bedeutung

Vor Afanassjews Arbeiten in den 1850er Jahren waren nur wenige Versuche unternommen worden, Erzählungen aus der russischen Volkssprache und dem Volksglauben des bäuerlichen Russlands aufzuzeichnen oder zu untersuchen. Zwar gab es seit dem 10. Jahrhundert ein schriftliches Kirchenslawisch, doch wurde es fast ausschließlich von der Kirche und nur für kirchliche Schriftstücke verwendet. Erst im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich eine beachtliche weltliche Literatur in der russischen Volkssprache. Die Sammlungen von Afanassjew leisteten somit einen äußerst wertvollen Beitrag zur Verbreitung und Legitimierung der russischen Kultur und des Volksglaubens. Der Einfluss dieser Volksmärchen ist in den Werken vieler Schriftsteller und Komponisten zu erkennen, insbesondere bei Nikolai Rimski-Korsakow (Sadko, das Schneemädchen) und Igor Strawinsky (Der Feuervogel, Petruschka und L’Histoire du soldat).

Popkultur

Im Film John Wick: Kapitel 3 aus dem Jahr 2019 besucht John Wick die New York Public Library und bittet um „Russian Folk Tales, Aleksandr Afanasyev, 1864“.

Verzeichnis der Märchen

Die in Klammern angegebenen Nummern bezeichnen die Zählung in Afanassjews Originalausgabe der russischen Märchen: Narodnye russkie skazki.

Illustrationen

Wichtige Illustrationen zu Afanassjews Märchen stammen von Iwan Jakowlewitsch Bilibin, Wiktor Michailowitsch Wasnezow und Robert Pudlich.

Die Palech-Malerei schuf Märchenbilder zu Afanassjew in leuchtend farbigen Lackminiaturen, z. B. Aleksej Orleanskij.

Verfilmungen

Zahlreiche russische Märchenfilme beruhen auf Märchenmotiven von Afanassjew:

Aktuelle Buchausgaben (Auswahl)

Literatur

Wikisource: Alexander Nikolajewitsch Afanassjew – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Steven Swann Jones: The fairy tale: the magic mirror of imagination. In: Märchen. 1. Auflage. Routledge, London 2002, ISBN 0-415-93891-0, S. 141. 
  2. a b James Riordan: Russian Fairy Tales and Their Collectors. 2003. 
  3. Alexander Nikolajewitsch Afanassjew: Russische Volkslegenden. Moskau 2014, ISBN 978-5-4458-9828-3, S. 189–243. 
  4. Arkady Baladin: Water of Life and a Spoken Word. Sovetskaya Russia, Moskau 1988, ISBN 5-268-00848-X, S. 6. 
  5. a b Jack Zipes: The Oxford Companion to Fairy Tales. Hrsg.: Oxford University Press. 2015, ISBN 978-0-19-968982-8
  6. a b Lev Barag, Alexander Afanasyev,Nikolai Novikov: Russian Fairy Tales. 1. Auflage. 2014, ISBN 978-5-4458-9824-5, S. 464–514. 
  7. L. Gruel-Apert, Tatiana Grigoreneva: Around Brothers Grimm and Alexander Afanasyev. Hrsg.: Nationale Bibliothek Frankreichs. Paris 2011. 
  8. a b Maria Tatar: The Annotated Classic Fairy Tales. Annotated Edition Auflage. W.W. Norton& Company, 2002, ISBN 0-393-05163-3, S. 335. 
  9. Jack V. Haney: Mr. Afanasiev's Naughty Little Secrets: Russkie zavetnye skazki. In: Folklorica – Journal of the Slavic, East European, and Eurasian Folklore Association. Band 3, Nr. 2, 1998, ISSN 1920-0242, doi:10.17161/folklorica.v3i2.3669 (ku.edu ). 
  10. What Was John Wick Reading at The New York Public Library? Abgerufen am 11. November 2022 (englisch). 
  11. Einige Märchen existieren in Afanassjews Sammlung in mehreren Versionen, die Zahl hinter „V“ gibt die abgedruckte Version an.
  12. Märchentexte von Afanasjew. Nach Afanaßjew, A. N.: Russische Volksmärchen. Ludwig, Wien 1910. In: zeno.org. Abgerufen am 12. September 2012. 
  13. Auch: Der Soldat und der Teufel, Übers. Anna Meyer 1908; bei Zeno.org Nr. 40, Titel Der Soldat und sein Ranzen. Hg. August von Löwis of Menar. Diederichs, 1927.
  14. 6 Hefte mit Original-Lithographien erschienen zwischen 1899 und 1902 in der russischen Staatsdruckerei in Sankt Petersburg, ein deutschsprachiger Nachdruck, herausgegeben von Elisabeth Borchers, im Insel-Verlag Frankfurt am Main 1973.
  15. Pudlich in: Das Karussell der Abenteuer. Abenteuerliche Geschichten der Weltliteratur. Staufen Verlag, Köln 1947, S. 228 (Text des Märchens S. 229ff.: Der Tod und der Soldat, oben Nr. 154, mit anderem Titel). Der Übersetzer ist unbenannt.
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