Hans Reichenbach (Physiker)

Hans Reichenbach, 1921

Hans Reichenbach (* 26. September 1891 in Hamburg; † 9. April 1953 in Los Angeles, Kalifornien) war ein deutscher Physiker, Philosoph und Logiker.

Leben

Reichenbach war der Sohn des Kaufmanns Bruno Reichenbach und dessen Ehefrau, der Erzieherin Selma Menzel. Seine Brüder waren der Journalist und KAPD-Aktivist Bernhard Reichenbach (1888–1975) und der Musikwissenschaftler Hermann Reichenbach (1898–1958).

1910/11 studierte Reichenbach an der Technischen Hochschule Stuttgart Bauingenieurwesen, das er aber bald abbrach. Er wechselte nach Berlin, um Mathematik, Physik und Philosophie zu studieren. Später wechselte er mit denselben Fächern an die Universitäten von Göttingen und München; seine Professoren waren dort Max Planck, Max Born, Ernst Cassirer, David Hilbert und Arnold Sommerfeld.

1915 wurde Reichenbach an der Universität Erlangen mit seiner Arbeit Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die mathematische Darstellung der Wirklichkeit von dem Mathematiker Max Noether und dem Philosophen Paul Hensel promoviert. Im folgenden Jahr absolvierte Reichenbach sein Staatsexamen für Mathematik und Physik und diente anschließend als Soldat im Ersten Weltkrieg.

Im Winter 1917/18 konnte er sein Studium in Berlin fortsetzen. Während dieser Zeit lernte er Albert Einstein kennen. Mit dessen Förderung konnte sich Reichenbach 1920 an der Technischen Hochschule Stuttgart habilitieren und bekam als Privatdozent dort auch einen Lehrauftrag. Seine Seminare reichten von der Geschichte der Philosophie bis hin zur Radiotechnik, Relativitätstheorie und Wissenschaftstheorie.

Vor dem Krieg und auch ab 1918 war er, teilweise zusammen mit Karl August Wittfogel, sehr aktiv in der Jugendbewegung und der sozialistischen Studentenpolitik. Reichenbach schrieb das Programm der sozialistischen Studentenpartei Berlin. Auf Einsteins Vorschlag hin wurde 1926 Reichenbach zum a.o. Prof. für Philosophie der Physik an der Universität Berlin ernannt. Reichenbach begründete 1930 u. a. zusammen mit Rudolf Carnap die Zeitschrift Erkenntnis, das Organ des logischen Positivismus.

Reichenbach war unter den ersten Dozenten, welche quasi mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 von der Universität entlassen wurden. Er ging in die Türkei (Haymatloz) und erhielt dort eine Professur an der Universität Istanbul. Dort wurde er mit der Umstrukturierung und Erneuerung des Philosophieunterrichts betraut. 1938 ging er in die USA und lehrte bis zu seinem Tod an der University of California, Los Angeles (UCLA).

Beispielhaft für die Probleme Reichenbachs im Nazideutschland ist ein Brief Felix Meiners an Rudolf Carnap, den Mitherausgeber der Zeitschrift Erkenntnis, vom 14. Juli 1937, der u. a. berichtet, es sei ihm „das weitere Verbleiben von Professor Reichenbach in der Herausgeberschaft der ‚Erkenntnis‘ als untragbar bezeichnet worden, nicht nur weil er Nichtarier ist, sondern hauptsächlich weil er in der Nachkriegszeit politische Äußerungen in Reden und Broschüren getan hat, die ihn für den heutigen Staat unmöglich machen.“

Werk

Reichenbach beschäftigte sich zunächst hauptsächlich mit Einsteins Relativitätstheorie und wurde dabei zu einem ihrer wichtigsten Verteidiger gegen Einwände von unterschiedlichen Seiten sowie zu einem der bekanntesten Kritiker populärer, oft uninformierter Darstellungen beider Relativitätstheorien.

Folgte er dabei anfangs noch einem leicht modifizierten Kantianismus, so entwickelte er Mitte der 1920er Jahre in fortschreitender Dezidiertheit das Programm eines logischen Empirismus (auch logischer Positivismus genannt) und wurde zu einem der Hauptvertreter desselben in Deutschland.

Wissenschaft und Philosophie

Nach seiner zusammen mit Rudolf Carnap erfolgten Übernahme der Schriftleitung der Zeitschrift Annalen der Philosophie unter dem neuen Titel Erkenntnis fasst Reichenbach 1930 das dort vollzogene und maßgeblich von ihm ausgearbeitete wissenschaftsanalytische Programm in die Formel, „Philosophie nicht als isolierte Wissenschaft, sondern im engsten Zusammenhang mit den einzelnen Fachwissenschaften zu treiben“. Dies unterscheidet Reichenbachs Ansatz von der im Wiener Kreis gepflegten Herangehensweise: Während der Wiener Kreis Wissenschaft formal-logisch rekonstruieren wollte, führte für Reichenbach der philosophische Zugang zur Wissenschaft ausschließlich über die Berücksichtigung wissenschaftlicher Disziplinen wie etwa Psychologie und Soziologie, welche Wissenschaft selbst thematisieren konnten. Die entsprechende interdisziplinäre Zusammenarbeit pflegte Reichenbach im Rahmen der Berliner Gruppe, die freilich auch in enger Verbindung zum Wiener Kreis stand.

Logik und Erkenntnistheorie

In den 1930er und nachfolgenden Jahren arbeitete Reichenbach an Problemen der Wahrscheinlichkeitslogik. Zur logischen Beschreibung der Quantenmechanik konstruierte Reichenbach eine dreiwertige Logik (Quantenlogik) mit den Wahrheitswerten wahr, falsch und unbestimmt, die drei Arten der Negation (ausschließende, diametrale und vollständige Negation) und drei Arten der Implikation (Standardimplikation, Alternativimplikation, Quasiimplikation) besitzt.

In seinem Buch Experience and Prediction nützt Reichenbach wahrscheinlichkeitstheoretische Überlegungen auf eine innovative, nach wie vor diskutierte Weise zur Klärung des erkenntnistheoretischen Problems, warum wir die Annahme der Existenz einer von unserem Bewusstsein unabhängigen Außenwelt dem Solipsismus vorziehen sollten. Dazu veranstaltet Reichenbach das Gedankenexperiment seiner „Würfel-Welt“ (in der angelsächsischen Diskussion auch „Reichenbach’s Cube“ genannt): Demnach lebt die gesamte Menschheit in einem riesigen undurchsichtigen und undurchdringlichen Würfel, auf dessen innerer Oberfläche sich ausschließlich Schatten außen vorbeifliegender Vögel silhouettenhaft abzeichnen. Diese Schatten werden noch dazu systematisch so verzerrt, dass sie jeweils doppelt an verschiedenen Stellen der Oberfläche zu sehen sind. Die Einwohner des Würfels nehmen zunächst an, dass hinter diesen Schatten keine äußere Wirklichkeit steht, bis ein Genie unter ihnen, das Reichenbach „Kopernikus“ nennt, die Parallelität zwischen den jeweiligen Schattenpaaren beobachtet. „Kopernikus“ kann nachweisen, dass eine zufällige Ähnlichkeit zwischen je zwei Schatten viel unwahrscheinlicher ist als die Existenz einer gemeinsamen äußeren Ursache und dass die Existenz einer Welt außerhalb des Würfels daher sehr wahrscheinlich ist. Abschließend überträgt Reichenbach das Ergebnis dieses Gedankenexperiments auf die Situation des Menschen: Selbst wenn die Würfel-Insassen die Wände des Würfels durchstoßen könnten, befänden sie sich immer noch in einer vergleichbaren Lage, da sich ihnen die Frage stellte, ob ihre Erfahrungen nur in ihrem Bewusstsein existierten oder von einer unabhängigen Außenwelt verursacht seien. Auch hier spräche dann die genannte wahrscheinlichkeitstheoretische Überlegung für letzteres.

Ein Modell des Tempus in der natürlichen Sprache

→ Hauptartikel: Tempus #Grundlagen: Situationszeit und Betrachtzeit

Hans Reichenbach schuf 1947 ein äußerst einflussreiches Modell zur Analyse der Bedeutung von Tempus in der natürlichen Sprache. Sein Tempussystem ist ein für alle Einzelsprachen gültiges System von Zeitrelationen. Zeit wird von ihm verstanden als eine dichte Folge von Zeitpunkten, die sich zu Intervallen gruppieren. Ein Zeitintervall besitzt dabei einen Anfangs- und einen Endpunkt, hingegen habe ein Zeitmoment diese Eigenschaft nicht. Die Tempora werden definiert als Relationen zwischen Zeitintervallen. Nach Reichenbachs Modell ergibt sich die Zeitinformation einer sprachlichen Aussage aus drei zusammenwirkenden und relational verknüpften Zeitgegebenheiten: Zunächst fixieren Sprechzeit S und Ereigniszeit E den Zeitpunkt einer Äußerung bzw. des versprachlichten Ereignisses und bilden damit objektive, außersprachliche Größen ab. Für die Zeit, auf die sich die sprachliche Kategorie Tempus direkt bezieht, steht hingegen die Referenzzeit R. Tempus bezeichnet nun eine Relation zwischen Sprechzeit und Referenzzeit, das heißt, man redet über eine Zeit R, die relativ zur Sprechzeit eingeordnet wird: Während sich bei der Zeitrelation der Gegenwart R mit S überlappt, geht bei der Zeitrelation der Vergangenheit R dem S vollständig voraus (man spricht über eine Zeit, die vergangen ist), beim Futur liegt umgekehrt die Referenzzeit R nach der Sprechzeit S. Die Ereigniszeit E wird erst in einem weiteren Schritt zu R in Beziehung gesetzt. Der Zusammenfall R = E ist hierbei nur der einfachste Fall von mehreren möglichen Relationen. Diese Abtrennung des zweiten Schritts zur Anbindung von E ermöglicht Weiterentwicklungen, mit denen auch komplexere Vergangenheitstempora wie etwa das Plusquamperfekt modelliert werden können (das eine Vorzeitigkeit des Ereignisses zu R bezeichnet).

Wirkung

Durch seine Arbeit in der Berliner Gruppe und dem philosophischen Institut der UCLA hatte Reichenbach maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des logischen Empirismus in Deutschland sowie der analytischen Nachkriegsphilosophie in den Vereinigten Staaten. Zu Reichenbachs zahlreichen Schülern zählten unter anderem Carl Hempel, Hilary Putnam und Wesley Salmon. In Berlin sowie Los Angeles galt Reichenbach als populärer Professor, der eng mit Studenten zusammenarbeitete und zahlreiche Dissertationen betreute.

Mitgliedschaft

1948 wurde Reichenbach in die American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Werke (Auswahl)

Aufsätze

Bücher

Aufsatzsammlungen

Werkausgabe

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Hans Reichenbach im Mathematics Genealogy Project (englisch) Vorlage:MathGenealogyProject/Wartung/id verwendet
  2. Rainer Hegselmann, Geo Siegwart: Zur Geschichte der 'Erkenntnis' (Memento vom 31. Januar 2012 im Internet Archive) (PDF) in: Erkenntnis 35 (1991), 461–471
  3. Zur Einführung, in: Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg.): Erkenntnis 1, Leipzig 1930–31, zugleich „Annalen der Philosophie“, Bd. 9
  4. Elliott Sober: Reichenbach’s cubical universe and the problem of the external world. In: Synthese. 181, 2011, S. 3–21, doi:10.1007/s11229-009-9593-x.
  5. Hans Reichenbach: Elements of Symbolic Logic. Macmillan Co., New York 1947.
  6. Saul Traiger: The Hans Reichenbach Correspondence. An Overview. In: Philosophy Research Archives. X (1984) S. 501–511.
  7. Members of the American Academy. Listed by election year, 1900–1949. (PDF; 143 kB) abgerufen am 11. Oktober 2015
Normdaten (Person): GND: 118599135 | LCCN: n79045081 | NDL: 00453890 | VIAF: 24615004 |