Gleichgewicht (Systemtheorie)

Im allgemeinen Sinn ist ein System im Gleichgewicht, wenn es sich ohne Einwirkung von außen zeitlich nicht verändert. Bei dynamischen Gleichgewichten werden im Allgemeinen nur makroskopische Veränderungen betrachtet. Bei einem thermodynamischen Gleichgewicht ist beispielsweise der Makrozustand eines Gases mit den Zustandsgrößen Druck, Temperatur und chemisches Potential konstant, während sich der Mikrozustand, also die Position und Geschwindigkeit einzelner Gasteilchen ändern kann.

Der Zustand, den das System ohne Einwirkung von außen nicht verlässt, wird allgemein Gleichgewichtszustand, kritischer Punkt, Fixpunkt, stationärer Zustand, Gleichgewichtslage genannt. Je nach Kontext, werden die genannten Begriffe nicht synonym verwendet, sondern beinhalten eine zusätzliche Klassifizierung des Zustands, etwa hinsichtlich der Stabilität. Bei der Betrachtung von offenen Systemen, wird ein sich nicht ändernder Zustand als „stationärer Zustand“ bezeichnet, während der Begriff „Gleichgewicht“ für einen stationären Zustand nach Isolierung des Systems gebraucht wird.

Allgemeine Definition

Betrachtet wird zunächst ein abgeschlossenes dynamisches System. Der Zustand eines dynamischen Systems zum Zeitpunkt t {\displaystyle t} , lässt sich allgemein durch ein Tupel x ∈ R n {\displaystyle x\in \mathbb {R} ^{n}} beschreiben, also eine geordnete Menge aller Zustandsgrößen. Damit der Zustand ein Gleichgewichtszustand ist, muss dieser für alle Zeiten gleich sein, man sagt auch „invariant gegenüber einer Dynamik f {\displaystyle f} “.

Die Lage und Anzahl der Gleichgewichtszustände eines Systems ist unabhängig davon, in welchem Zustand das System sich befindet, also auch unabhängig davon, ob es „im Gleichgewicht“ ist oder nicht. Die Gleichgewichtszustände ergeben sich als Lösungen der Gleichgewichtsbedingungen. Je nach Anzahl an Lösungen der Gleichungen für die jeweilige Gleichgewichtsbedingung, kann ein System beliebig viele Gleichgewichtszustände besitzen.

Kontinuierliches dynamisches System

Beispiel für ein eindimensionales System. Die x-Achse ist der Zustandsraum; die schwarzen Pfeile zeigen die Zeitentwicklung. Die zwei Nullstellen der Funktion f sind die Gleichgewichtszustände x1 und x2. Die Funktion f lässt sich als negativer Gradient eines Potentials E darstellen.

Für ein kontinuierliches dynamisches System, dessen Zeitentwicklung gegeben ist durch die Differentialgleichung

d d t x = f ( x ) {\displaystyle {\frac {\mathrm {d} }{\mathrm {d} t}}x=f(x)}

ist ein Gleichgewichtszustand x ( t ) = x ∗ {\displaystyle x(t)=x^{*}} gegeben durch die Gleichgewichtsbedingung

f ( x ∗ ) = 0 {\displaystyle f(x^{*})=0}

da dann entsprechend die zeitliche Ableitung d d t x ∗ = 0 {\displaystyle \textstyle {\frac {\mathrm {d} }{\mathrm {d} t}}x^{*}=0} ist. Ein Gleichgewichtszustand ist also eine zeitunabhängige Lösung der gewöhnlichen Differentialgleichung bzw. eine Nullstelle der Funktion f {\displaystyle f} .

Diskretes dynamisches System

Konvergenz zu einem stationären Zustand in einem zeitdiskreten makroökonomischen Stock-Flow Consistent Model.

Ein diskretes dynamisches System, welches nur diskrete Zeitschritte erlaubt, lässt sich durch eine iterierte Abbildung

x n + 1 = f ( x n ) , n = 0 , 1 , 2 … {\displaystyle x_{n+1}=f(x_{n}),\qquad n=0,1,2\ldots }

beschreiben. Die Gleichgewichtsbedingung für den Gleichgewichtszustand x n ∗ {\displaystyle x_{n}^{*}} ist

x n ∗ = f ( x n ∗ ) . {\displaystyle x_{n}^{*}=f(x_{n}^{*}).}

Der Gleichgewichtspunkt x n ∗ {\displaystyle x_{n}^{*}} ist also ein zeitunabhängiger Fixpunkt der Abbildung f {\displaystyle f} .

Gleichgewichtszustand und Potential

Anstelle der Nullstellen der Funktion f {\displaystyle f} zu betrachten, lässt sich für viele Systeme ein Potential E {\displaystyle E} finden, sodass f = − ∇ E {\displaystyle f=-\nabla E} sich als negativer Gradient des Potentials schreiben lässt. Ein Gleichgewichtszustand entspricht dann einem Extrempunkt des Potentials. Bei einem thermodynamischen System ist dies ein geeignetes thermodynamisches Potential. Zum Beispiel eignet sich für ein System bei konstanter Temperatur und Druck, wie eine chemische Reaktion, die Gibbs freie Enthalpie, welche minimal ist, wenn das System im thermodynamischen Gleichgewicht ist.

Bei einem Hamiltonschen System lässt sich der Zustand x {\displaystyle x} durch die Ortskoordinaten q i {\displaystyle q_{i}} und Impulse p i {\displaystyle p_{i}} beschreiben. Für ein Gleichgewichtszustand gilt d d t q i = 0 {\displaystyle \textstyle {\frac {\mathrm {d} }{\mathrm {d} t}}q_{i}=0} und d d t p i = 0 {\displaystyle \textstyle {\frac {\mathrm {d} }{\mathrm {d} t}}p_{i}=0} . Die Dynamik ist durch die kanonischen Gleichungen gegeben. Einsetzen der Gleichgewichtsbedingung ergibt, dass bei einem Gleichgewichtszustand die partiellen Ableitung der Hamiltonfunktion d H d p i {\displaystyle \textstyle {\frac {\mathrm {d} H}{\mathrm {d} p_{i}}}} und d H d q i {\displaystyle \textstyle {\frac {\mathrm {d} H}{\mathrm {d} q_{i}}}} Null sind, der Gleichgewichtszustand ist daher ein Extrempunkt des Potentials.

In der Mechanik wird der Ort mit den Koordinaten q i {\displaystyle q_{i}} des Gleichgewichtszustandes auch Ruhelage oder statische Ruhelage genannt. Insbesondere erfährt ein Teilchen in der Ruhelage keinerlei Kraft. „Ruhelage“ ist in dieser Hinsicht etwas irreführend: Zwar wirkt auf ein Teilchen in der Ruhelage keine Kraft, das Teilchen muss sich dort allerdings keinesfalls in Ruhe befinden. Erst bei einem statischen Zustand, bei dem die Gleichgewichtsbedingung auch für die Impulse erfüllt ist, ist das Teilchen dort in Ruhe und das System im Gleichgewicht.

Verhalten von Gleichgewichten bei Störungen

Die zeitliche Entwicklung eines dynamischen Systems lässt sich qualitativ durch Charakterisieren der Gleichgewichtszustände abschätzen. Ein Gleichgewichtszustand lässt sich grob einteilen in

stabil Das System kehrt nach einer Störung wieder in seinen Ausgangszustand zurück. labil Das System geht bei der kleinsten Störung in einen anderen Zustand über. Siehe aber auch Spontane Symmetriebrechung: Kuppel-Paradox indifferent Das System kommt nach jeder Störung in einem neuen Zustand zur Ruhe. metastabil Das System geht nach einer ausreichend großen Störung in einen stabileren Gleichgewichtszustand über. Bei zwei Gleichgewichtszuständen spricht man auch von bistabil.

Zur mathematisch exakten Einteilung gibt es in der Stabilitätstheorie mehrere Stabilitätsbegriffe. Im Folgenden wird ein kontinuierliches System angenommen, ähnliche Begriffe lassen sich auch für Systeme mit diskreten Zeitschritten definieren.

Ljapunov-stabil Ein Gleichgewichtszustand x ∗ {\displaystyle x^{*}} ist Ljapunov-stabil, wenn eine hinreichend kleine Störung stets klein bleibt oder präziser: Für jedes ε > 0 {\displaystyle \varepsilon >0} existiert ein δ > 0 {\displaystyle \delta >0} derart, dass für alle Zeiten t ≥ 0 {\displaystyle t\geq 0} und alle Trajektorien x ( t ) {\displaystyle x(t)} mit ‖ x ( 0 ) − x ∗ ‖ < δ {\displaystyle \|x(0)-x^{*}\|<\delta } gilt: ‖ x ( t ) − x ∗ ‖ < ε {\displaystyle \|x(t)-x^{*}\|<\varepsilon } . asymptotisch stabil Ein Gleichgewichtszustand x ∗ {\displaystyle x^{*}} ist asymptotisch stabil, wenn er Ljapunov-stabil und attraktiv ist, also bei einer Störung wieder in den Gleichgewichtszustand zurückkehrt. Attraktiv bedeutet, dass es ein η > 0 {\displaystyle \eta >0} gibt, sodass jede Trajektorie x ( t ) {\displaystyle x(t)} mit ‖ x ( 0 ) − x ∗ ‖ < η {\displaystyle \|x(0)-x^{*}\|<\eta } für alle t ≥ 0 {\displaystyle t\geq 0} existiert und die Bedingung lim t → ∞ x ( t ) = x ∗ {\displaystyle \lim _{t\to \infty }x(t)=x^{*}} erfüllt.

Eine Methode zur Stabilitätsanalyse ist, das System um den Gleichgewichtszustand zu linearisieren. Mit dem Satz von Hartman-Grobman lässt sich der Gleichgewichtszustand dann anhand der Eigenwerte der Jacobi-Matrix charakterisieren.

Beispiele

Thermisches Gleichgewicht bei einem Haus

Der zeitliche Verlauf der Temperatur T {\displaystyle T} in einem ungeheizten Haus in Abhängigkeit von der Außentemperatur T A {\displaystyle T_{\mathrm {A} }} lässt sich in einem einfachen Modell durch die Differentialgleichung

d d t T = − k ( T − T A ) {\displaystyle {\frac {\mathrm {d} }{\mathrm {d} t}}T=-k(T-T_{\mathrm {A} })}

beschreiben. Die Konstante k = A α / C {\displaystyle k=A\alpha /C} berechnet sich aus Fläche A {\displaystyle A} , Wärmeübergangskoeffizient α {\displaystyle \alpha } der Hauswände sowie der Wärmekapazität C {\displaystyle C} der Luft. Die Funktion f ( T ) = − k ( T − T A ) {\displaystyle f(T)=-k(T-T_{\mathrm {A} })} auf der rechten Seite der Gleichung bestimmt die Dynamik des Systems. Für einen Gleichgewichtszustand T ∗ {\displaystyle T^{*}} gilt

f ( T ∗ ) = − k ( T ∗ − T A ) = 0 {\displaystyle f(T^{*})=-k(T^{*}-T_{\mathrm {A} })=0} .

Das System besitzt also einen Gleichgewichtszustand bei T ∗ = T A {\displaystyle T^{*}=T_{\mathrm {A} }} . Da die Ableitung

d f d T ( T ∗ ) = − k {\displaystyle {\frac {\mathrm {d} f}{\mathrm {d} T}}(T^{*})=-k}

negativ ist, ist der Gleichgewichtszustand T ∗ {\displaystyle T^{*}} stabil. Wenn das Haus wärmer bzw. kälter als die Umgebung ist, kühlt bzw. wärmt es sich solange auf, bis es diesen Gleichgewichtszustand erreicht. Auf diese Weise lassen sich durch die Bestimmung der Gleichgewichtspunkte und deren Stabilität Aussagen über das Verhalten des Systems treffen, ohne explizit den zeitlichen Verlauf T ( t ) {\displaystyle T(t)} der Temperatur berechnen zu müssen. Die Integration der Gleichung, die für diese explizite Berechnung notwendig wäre, ist bei nichtlinearen Systemen im Allgemeinen nicht einfach oder analytisch nicht möglich.

Mechanisches Gleichgewicht bei einem ebenen Pendel

Ein ebenes Pendel als Fahrgeschäft auf einer Kirmes Gleichgewichtspositionen des ebenen Pendels. Phasenraum des ebenen Pendels mit Konstanten = 1. Das Potential und der Phasenraum sind bezüglich des Winkels θ periodisch mit Periode 2π.

Ein ebenes Pendel ist ein mechanisches System, bei dem eine Masse mit einer Pendelstange fester Länge l {\displaystyle l} drehbar in einem Punkt befestigt ist. Der Zustand x = ( θ , ω ) {\displaystyle \textstyle x=(\theta ,\omega )} eines solchen Pendels zu einem festen Zeitpunkt t {\displaystyle t} lässt sich durch einen Winkel θ ∈

Enge Kopplung

Dominiert ein Kopplungsprozess die anderen Prozesse, so ist der Zustand des Teilsystems in der betroffenen Zustandsgröße festgelegt. Beispiele: Der Topf ist offen, der Druck ist auf den atmosphärischen Druck festgelegt, selbst große Heizleistung erhöht die Temperatur nicht über den Siedepunkt, solange noch Wasser im Topf ist. In der Elektrotechnik ist bei Anschluss eines Kleinverbrauchers an eine Spannungsquelle die Spannung festgelegt (geklemmt). Ein ökonomisches Beispiel ist die Buchpreisbindung (für Werke ohne Alternative, etwa spezielle Fachbücher).

Fließgleichgewicht im rückwirkungsfreien System

Ohne enge Kopplung werden Systeme meist mit deutlichen Änderungen ihres Zustandes auf Änderungen in der Umgebung reagieren. Die Bezeichnung Fließgleichgewicht legt folgendes Beispiel nahe: Der Füllstand einer Badewanne ohne Stöpsel wird sich bei gegebenem Zufluss so einpegeln, dass der vom Pegel abhängige Abfluss dem Zufluss gleich ist. Fließgleichgewichte gibt es aber auch mit vielen anderen physikalischen und nicht-physikalischen Größen, etwa Energie oder Reichtum.

Homöostatisches Gleichgewicht → Hauptartikel: Homöostase

Die Flüsse über die Systemgrenze können auch dadurch ausgeglichen werden, indem das System durch interne Regelungsprozesse auf sie Einfluss nimmt. Das Teilsystem eines komplexen Systems, das den Regelungsmechanismus bildet, nennt die Systemtheorie allgemein Homöostat, das prototypische Beispiel ist der Thermostat.

Der Begriff Homöostase wurde im Zusammenhang mit lebenden Systemen geprägt, in denen meist viele Systemparameter einer Regelung unterliegen: pH-Wert, osmotischer Druck, Enzymkonzentrationen, Temperatur, Zellenzahl – um nur einige zu nennen.

Einzelnachweise

  1. Robert Besancon: The Encyclopedia of Physics. Springer Science & Business Media, 2013, ISBN 1-4615-6902-8, S. 406 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche). 
  2. Rolf Haase: Thermodynamik. Springer-Verlag, 2013, ISBN 3-642-97761-8, S. 3 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche). 
  3. Steven H. Strogatz: Nonlinear Dynamics and Chaos. Perseus Books Group, 2001; S. 15.
  4. Bertram Köhler: Evolution und Entropieproduktion. Abgerufen am 9. April 2017.