Seyran Ateş (phon. , * 20. April 1963 in Istanbul, Türkei) ist eine deutsche Rechtsanwältin, Autorin und Frauenrechtlerin türkischer und kurdischer Abstammung. Sie befasst sich als Anwältin in Berlin hauptsächlich mit Straf- und Familienrecht und engagiert sich in der deutschen Ausländerpolitik.
1984 wurde sie bei dem Mordanschlag auf ihre Mandantin Fatma E., bei dem diese verstarb, lebensgefährlich verletzt.
Seyran Ateş war Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und nahm am Integrationsgipfel der Bundesregierung teil.
Wegen gewalttätiger Angriffe und Bedrohungen durch Prozessgegner sowie wegen Anfeindungen von verbandspolitischer Seite gab sie im Jahr 2006 vorübergehend ihre Anwaltszulassung zurück und zog sich nach neuen Morddrohungen von 2009 bis 2011 ganz aus der Öffentlichkeit zurück. Im Jahr 2012 eröffnete sie ihre Anwaltskanzlei wieder. Im Juni 2022 gründete sie PEN Berlin mit.
Ateş ist Initiatorin und Mitbegründerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, die für einen liberalen Islam steht, der nach eigenen Angaben weltliche und religiöse Macht voneinander trennt und sich um eine zeitgemäße und geschlechtergerechte Auslegung des Koran und der Hadithen bemüht. Ateş erhielt nach Gründung der Moscheegemeinde eine Vielzahl von Morddrohungen und steht rund um die Uhr unter polizeilichem Personenschutz.
Seyran Ateş, deren Mutter Türkin und deren Vater Kurde ist, hat 2003 in ihrem autobiografischen Buch Große Reise ins Feuer – Die Geschichte einer deutschen Türkin die beengten Verhältnisse beschrieben, aus denen sie sich persönlich befreit hat. Der Titel ihres Buches spielt auf ihren Namen an, Seyran heißt ‚Ausflug, Vergnügungsfahrt‘ und Ateş heißt ‚Feuer, Fieber‘. Im Alter von sechs Jahren zog sie zu ihren Eltern nach Berlin-Wedding. Diese waren schon Jahre vorher dorthin gezogen, ohne dass ihre kleine Tochter wusste, wohin sie verschwunden waren. Die siebenköpfige Familie lebte in einer Einzimmerwohnung. Dort hatte sie die herkömmliche Frauenrolle zu erfüllen. Sie musste ihren Bruder und die Eltern bedienen und durfte nicht alleine das Haus verlassen. Für Ungehorsam wurde sie geschlagen und beschimpft. In der Vorschule blieb sie als einzige Türkin mangels hinreichender deutscher Sprachkenntnis zunächst sozial isoliert. Sie lernte aber sehr schnell Deutsch und gehörte bereits in der 1. Klasse zu den besten Schülern. Mit einer Empfehlung für das Gymnasium ging sie schließlich aus eigener Entscheidung auf eine Gesamtschule und machte im Hinblick auf den Wunsch, Jura zu studieren, das Abitur am Oberstufenzentrum Wirtschaft-Verwaltung-Recht. Auf der Gesamtschule wurde sie zur Schulsprecherin gewählt. Die Entfremdung zwischen repressiver Erziehung und schulischer Anerkennung ertrug sie aber nicht mehr auf Dauer. Weil ihr die Strenge ihrer Eltern die Luft zum Atmen nahm, verließ sie kurz vor ihrem 18. Geburtstag ihr Elternhaus. Der Kinder- und Jugendnotdienst nimmt Seyran Ateş auf, Arbeit findet sie in einem Beratungszentrum für muslimische Frauen. Bis zum Abitur lebte sie in einer Wohngemeinschaft und bei einer befreundeten Rechtsanwältin.
Zur Finanzierung ihres Jurastudiums an der Freien Universität Berlin arbeitete sie in dem Kreuzberger Treff- und Informationsort für Frauen aus der Türkei TIO für türkische und kurdische Migrantinnen, die sich vor der häuslichen Gewalt in ihren Familien schützen wollten. 1984 erschoss während der Beratungszeit ein Mann ihre Klientin Fatma E. und verletzte Seyran Ateş lebensgefährlich. Dabei will Ateş ein Nahtoderlebnis gehabt haben. Der Tatverdächtige wurde von ihr und sechs anderen Zeugen identifiziert. Später konnte seine Mitgliedschaft in der nationalistisch, faschistischen türkischen Organisation Graue Wölfe nachgewiesen werden, für die er als Auftragskiller gearbeitet haben soll. Nachdem der Tatverdächtige freigesprochen wurde und bis heute unbehelligt in Berlin-Kreuzberg lebt, warf Ateş den Behörden Ermittlungsfehler und Schlamperei vor. Ein Vertreter des Verfassungsschutzes vermied vor Gericht eine Äußerung zur Sache mit der Begründung, es gebe keinen eingetragenen Verein mit dem Namen Graue Wölfe. Die Genesung und Heilung von den Folgen des Attentats zog sich über sechs Jahre hin. 1997 legte sie ihr zweites Staatsexamen am Kammergericht Berlin ab und beendete damit erfolgreich ihr Rechtsreferendariat.
Seyran Ateş wendet sich in der Integrationsdebatte gegen das in ihren Augen gescheiterte Konzept der Multikulturalität und vertritt stattdessen die Idee der Transkulturalität. Sie kämpft mit Vorträgen und Veröffentlichungen gegen die durch ein falsches Islamverständnis legitimierte Geschlechtertrennung und die Unterdrückung der Frau, ihrer Ansicht nach versinnbildlicht in Zwangsverhüllung sowie gegen Zwangsverheiratung, Kinderehen und Ehrenmorde. Sie setzt sich für mehr aufsuchende Sozialarbeit in Familien mit türkischer und kurdischer Herkunft ein und forderte als erste einen eigenen Straftatbestand gegen Zwangsverheiratung, der Frauen und Männer besser vor Zwangsehen schützt. Sie gehörte zu Unterstützerinnen der Mahnwache für das Ehrenmord-Opfer Hatun Sürücü.
Wegen ihres Engagements für Integration und Gleichberechtigung wurde sie 2007 in Deutschland mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Am 1. Oktober 2008 erhielt sie vom Regierenden Bürgermeister der Stadt Berlin, Klaus Wowereit, den Verdienstorden des Landes Berlin. Ateş ist Mitglied des Kuratoriums des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg. 2014 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
Nach einem Scheidungstermin wurden Seyran Ateş und ihre Mandantin am 7. Juni 2006 von dem geschiedenen Ehemann am Kreuzberger U-Bahnhof Möckernbrücke beleidigt und bedroht, die Mandantin wurde geschlagen, ohne dass einer der Passanten eingegriffen hätte. Es folgten weitere Bedrohungen von anderen Verfahrensgegnern und politischen Gegnern. Im August 2006 gab Seyran Ateş ihre Anwaltszulassung zurück. Sie begründete diesen Schritt mit häufigen Bedrohungen und tätlichen Angriffen durch Verfahrensgegner ihrer Mandantschaft. Sie warf türkischen Verbänden wie etwa der Türkischen Gemeinde zu Berlin und der türkischen Zeitung Hürriyet eine Mitschuld an der „gewalttätigen Stimmung“ vor.
Nur indirekt wies sie auch auf einen Mangel an Personenschutz durch die Polizei hin, den sie jedoch nicht ausdrücklich angefordert hatte, wie sie erst später klarstellte. Zugleich gab Ateş bekannt, weiterhin politisch tätig bleiben zu wollen mit Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Interviews. Hier sei der Personenschutz gewährleistet. Sie erfuhr Zuspruch von Politikern aller Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses, auch im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 17. September 2006. Auch von Berliner Anwälten und dem Deutschen Juristinnenbund erhielt Ateş Unterstützung. In ihrem ersten Interview nach ihrer Rückgabe der Anwaltszulassung begründete sie diesen Schritt damit, dass sie nicht so wie Ayaan Hirsi Ali enden wollte. Diese kämpfte in ihrem Land gegen eine Übermacht an und sah sich schließlich zur Emigration gezwungen. Trotz der Hilfsangebote aus Politik (Anwendung des Zeugenschutzprogramms, wie von Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) vorgeschlagen) und Justiz (Mitarbeit in Kanzleien) blieb sie zunächst bei ihrem Entschluss.
Nach einem Gespräch mit Vertretern des Berliner Anwaltsvereins (BAV) und mit dem Deutschen Juristinnenbund (djb) stellte Ateş am 11. September 2006 in Aussicht, vielleicht ihre Anwaltstätigkeit 2007 wieder aufzunehmen. Ihre Berufskollegen boten ihr an, ihren Anwaltsberuf zukünftig in einem gemeinschaftlichen Büro einer Anwaltssozietät besser geschützt vor Übergriffen auszuüben. Dieses Angebot wollte sie erst nach einer längeren Phase der Erholung annehmen. Trotz negativer Stimmen aus dem Berliner Senat zum „Fall Ateş“ wurde dieser erneut von mehreren Politikern zu Schutzmaßnahmen aufgefordert.
Am 6. September 2007 nahm Ateş nach einem Jahr wieder ihre Arbeit als Anwältin auf. Zukünftig wolle sie jedoch ohne eine öffentliche Bekanntgabe ihres Kanzleisitzes tätig sein. Zwar wisse sie nicht, wie lange sie noch in Deutschland arbeiten könne, doch werde sie von der öffentlichen Debatte geschützt.
Am 19. Oktober 2009 berichtete Deutschlandradio Kultur unter Berufung auf den Ullstein Verlag, dass sich Ateş ganz aus der Öffentlichkeit zurückziehen werde. Der Grund für diesen Schritt seien Morddrohungen, die sie nach dem Erscheinen ihres jüngsten Werks Der Islam braucht eine sexuelle Revolution erhalten habe. Laut Verlag befanden sich Ateş und ihre Familie damals in unmittelbarer Gefahr.
Im Februar 2012 beantragte Ateş, aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen zu werden. Dieser Schritt sei ihr persönlich und politisch nicht leichtgefallen, auch weil sie damit ihre Ansichten zur doppelten Staatsangehörigkeit neu überdenken müsse.
Im Sommer 2012 eröffnete sie wieder ihre Anwaltskanzlei in der Müllerstraße im Berliner Wedding, um vor allem hilfesuchenden Frauen als Anwältin zur Verfügung zu stehen.
2016 bereitete Ateş mit anderen die Gründung einer Moschee vor, in der, entgegen der sonst üblichen Praxis im Islam, Frauen und Männer gemeinsam beten. Zugleich lässt sie sich zur Imamin ausbilden. Am 16. Juni 2017 eröffnete sie in Berlin die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee. Nach etwa 100 Morddrohungen erhielt Ateş rund um die Uhr Personenschutz. Ihre Berliner Moschee vertritt einen säkularen Islam. Gegen die zahllosen Hasstiraden gegen sie auf Facebook und Twitter stellt sie in schlimmen Fällen auch Strafantrag. Gemeinsam mit dem Berliner Landeskriminalamt habe sie momentan über 200 Anzeigen gestellt, berichtete sie im September 2017 auf der ÖIF-Podiumsdiskussion Integration und Islam in Wien.
In dem Dokumentarfilm Seyran Ateş: Sex, Revolution and Islam aus dem Jahr 2021 wird das Leben von Ateş als Feministin, Rechtsanwältin und Moscheegründerin gezeigt. Der Film qualifizierte sich für weltweit 24 Filmfestivals und erhielt überwiegend positive Besprechungen.
In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit zum islamfeindlichen Film Innocence of Muslims vertrat Ateş als Muslima und Juristin im September 2012 die Meinung, der Staat dürfe den von islamischen Fundamentalisten unterstützten Protestaktionen von Muslimen nicht nachgeben: „Wo aber Religion nur der Abgrenzung dient, stellt sie sich gegen die Demokratie. Und wo Religion nach Strafen schreit, beginnt der Krieg gegen die Aufklärung und gegen jene Freiheiten, von denen hierzulande alle Kirchen und Glaubensgemeinschaften profitieren. Auch ihre Wahrheit muss kritisierbar bleiben. Beleidigt werden kann im Grunde nur der Fundamentalist.“
Dem Rechtsmagazin Legal Tribune Online gab sie im März 2012 ein Interview, in dem sie ihre bis dahin die Doppelte Staatsbürgerschaft rundweg bejahende Auffassung revidierte. Sie stellte die an junge Leute durch die bundesdeutsche Rechtsordnung herangetragene Notwendigkeit, sich für eine Staatszugehörigkeit zu entscheiden, als positive Herausforderung dar. Es sei eine Chance, sich über die Verfassung und die politischen Gegebenheiten der jeweiligen Länder zu informieren, über die Menschenrechtssituation, das Maß an Demokratie, Pluralität und Zivilgesellschaft, das gewährt wird. Ausdrücklich hält sie es für bedenklich, wenn sich eine Gesellschaft Bürger schafft, die die Gesellschaft ablehnen und nur ein Interesse an den Privilegien haben, sich aber für den Rest nicht interessieren, weder für die Sprache noch die Kultur. Sie tritt insbesondere dafür ein, den Verfassungspatriotismus „ins Herz der Integrationsdebatte zu stellen“.
Seit Mai 2018 ist Seyran Ateş Botschafterin für den Verein „intaktiv e. V.“, der sich gegen die Genitalverstümmelung und Beschneidung von Kindern einsetzt.
Die Imamin veröffentlichte in der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee eine Friedensbotschaft nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel 2023. Sie solidarisierte sich mit jenen Palästinensern, die sich von der Terrorgruppe Hamas abgrenzen und stellte sich auf die Seite Israels.
Im 13. November 2018 trat Seyran Ateş zusammen mit dem damaligen FPÖ-Chef und österreichschem Vize-Kanzler Heinz-Christian Strache im Wiener Kursalon Hübner auf. Sie hielt einen Vortrag bei der Freiheitlichen Akademie der FPÖ mit dem Titel Der politische Islam und seine Gefahren für Europa. Bereits vor der Veranstaltung hatte es heftige Kritik an Ateş gegeben. Abdel-Hakim Ourghi, eines der sechs Gründungsmitglieder und Gesellschafter der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee trat aus Protest zurück. Am Tag vor der Veranstaltung veröffentlichte Ateş auf der Webseite der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee eine Pressemitteilung, mit dem Titel Zu ihrer morgigen Teilnahme an der Freiheitlichen Akademie in Österreich erklärt Seyran Ateş. Später veröffentlichte sie dort auch den Text ihrer Rede. Ateş wurde dafür unter anderem von Hilal Sezgin in ihrer TAZ-Kolumne vom 21. November 2018 unter der Überschrift Wie man nicht mit Rechten redet kritisiert. Auch in der Wochenzeitung Der Freitag erschien ein kritischer Artikel. In der Wochenzeitung Jungle World folgten dann im Dezember zwei Artikel und im Januar des Folgejahres ein Interview mit Seyran Ateş.
Im Dezember 2019 wurde bekannt, dass Ateş vom Betreiber des „Artemis“, des größten Bordells in Berlin, einen Privatkredit in Höhe von 45.000 Euro erhalten hat. Ateş wies dazu darauf hin, „sie habe keine unzulässigen Vorteile in Anspruch genommen“; die Existenz des Privatkredits bestritt Ateş nicht.
In einem Buchbeitrag wirft die Psychologin Birgit Rommelspacher, emeritierte Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, Seyran Ateş vor, sich beim Thema Kindererziehung in türkischen Familien in einem „eklatanten Widerspruch zu den empirischen Forschungen“ zu befinden. Zudem würde Ateş’ Aussage, sie habe als Muslima in Deutschland aufgrund ihrer deutschen Sprachkompetenz nie Diskriminierung erfahren, und die mit dieser Erfahrung verbundene Fokussierung auf das Sprachproblem „von der Mehrheitsgesellschaft gerne aufgegriffen, denn damit kann sie den Veränderungsdruck an die Minderheiten abgeben und sich selbst von den Vorwürfen der Versäumnisse in der Integrationspolitik und des antimuslimischen Rassismus freisprechen.“ Mit Ateş’ in Der Multikulti-Irrtum getroffenen Aussage, „Ich wünschte mir, dass tatsächlich alle Menschen, die der Ansicht sind, dass sie in einem anderen Land leben wollen, Deutschland verlassen würden“, werden laut Rommelspacher Ressentiments gegenüber Fremden „nicht nur unterstützt, sondern geradezu eingefordert“.
Personendaten | |
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NAME | Ateş, Seyran |
KURZBESCHREIBUNG | deutsche Rechtsanwältin, Autorin und Frauenrechtlerin türkisch-kurdischer Herkunft |
GEBURTSDATUM | 20. April 1963 |
GEBURTSORT | Istanbul, Türkei |