Karl Heinz Roth

Karl Heinz Roth, 2018

Karl Heinz Roth, Pseudonym Leo Kerrner, (* 27. Mai 1942 in Wertheim) ist ein deutscher Arzt, politischer Publizist und Historiker. Er wurde vor allem durch seine Arbeiten zur Sozialgeschichte des Nationalsozialismus bekannt.

Leben

Roth ist Sohn eines Polizeimeisters und einer Näherin. Er absolvierte 1961 das Abitur. Nach dem Abitur ging er freiwillig zur Bundeswehr und wurde der Luftwaffe zugeteilt. Hier erlebte er, wie sich die deutschen Streitkräfte in ihrer Traditionspflege unkritisch auf die Wehrmacht des Dritten Reiches beriefen. Daher verweigerte Roth die Ablegung des „Feierlichen Gelöbnisses“ – laut Roth sein „erster bewußter politischer Schritt“. Daraufhin wurde er in eine Sanitätseinheit „strafversetzt“.

Es folgte ein Medizinstudium an den Universitäten Würzburg und Köln und die Teilnahme am Studentenprotest gegen Notstandsgesetzgebung und Vietnamkrieg. Im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gelangte er bis in den Bundesvorstand. Daneben begann er eine Tätigkeit als Betriebssanitäter der Kölner Ford-Werke. Damals arbeiteten zahlreiche linke Studenten zeitweilig in einem Betrieb, um sich mit der Arbeiterklasse zu verbünden. 1967 setzte er sein Studium und seine SDS-Tätigkeit in Hamburg fort. Kurz nach dem Attentat auf den linken Studentenführer Rudi Dutschke nahm Roth an Protesten gegen den Verleger Axel Springer teil. Bei einer Demonstration am 1. Mai 1968 wurde Roth festgenommen und kurz darauf wieder freigelassen. Anschließend erließ die Hamburger Justiz einen Haftbefehl gegen ihn wegen Verletzung der Rathaus-Bannmeile. Die Anklage wurde schließlich im Rahmen einer angekündigten Amnestie der Regierung Brandt fallengelassen. 1970 schloss Roth sein Medizinstudium in Hamburg ab.

Als es 1970 im Jordanischen Bürgerkrieg zur Niederschlagung der PLO kam, reiste Roth in den Nahen Osten, um dort medizinische Hilfe zu leisten. Danach arbeitete er einige Zeit im Hamburger Hafenkrankenhaus und ab 1973 im Kölner Vinzenz-Hospital.

Roth engagierte sich nach dem Zerfall des SDS im Internationalismusreferat des AStA der Universität Hamburg und in der daraus hervorgegangenen „Gruppe Trikont“. Aus einem Teil dieser Organisation, zu dem auch Roth gehörte, gingen später die „Proletarische Front“ sowie die „Proletarische Front – Gruppe Westdeutscher Kommunisten“ hervor, die von dem politischen Ansatz der italienischen operaistischen Gruppe „Potere operaio“ inspiriert waren und gemeinsam mit anderen operaistischen Gruppen die Publikationen Wir Wollen Alles und darauf folgend Autonomie – Materialien gegen die Fabrikgesellschaft herausbrachten. Zu beiden Publikationen steuerte Roth Artikel bei und wirkte bei der Gründung der Autonomie 1975 mit. Außerdem schrieb er zur Geschichte und Gegenwart der deutschen Arbeiterbewegung, darunter 1974 das Buch Die „andere“ Arbeiterbewegung.

Zu einem Zwischenfall kam es am 9. Mai 1975, als Roth, wieder in Deutschland, in Köln in eine Polizeikontrolle geriet; er befand sich in Begleitung von Werner Sauber, einem Mitglied der Terrororganisation Bewegung 2. Juni. Es kam zu einer Schießerei, bei der Werner Sauber und der Polizist Walter Pauli getötet wurden. Ein weiterer Polizist wurde angeschossen. Roth selbst wurde lebensgefährlich verletzt und in der Folge wegen Mordes angeklagt, 1977 aber freigesprochen.

Ein Jahr nach der Ermordung Hanns Martin Schleyers durch die Rote Armee Fraktion veröffentlichte Roth unter dem Pseudonym Leo Kerrner eine Analyse Schleyers als „Unperson“. Lutz Hachmeister attestiert Roth dabei, durch seine Schwerpunktsetzung auf der sozialen Praxis näher an Lebenswirklichkeit und Einflussmöglichkeiten des Typus Schleyer herangekommen zu sein als die meisten linken Beobachter. Zugleich habe Roth den jungen Schleyer aber auch mit gewaltigen strategischen Fähigkeiten und operativen Kompetenzen ausgestattet. Roth folgerte, dass die RAF, indem sie Schleyer ermordete, bzw., in Roths Worten, ihn von der „Person Schleyer“ zur „Unperson“ machte, bewiesen habe, dass sie mit demselben abstrakten Hass und der Austauschbarkeit der Opfer arbeitete wie die Institutionen, die sie bekämpfte. Der bewaffnete Kampf der RAF schien für Roth kein Versprechen künftiger Freiheit zu sein, sondern glich der Gewaltausübung des Staates oder, schlimmer, der Gewaltsamkeit einer künftigen Despotie. 1979 kritisierte Roth in einem längeren Text Moral, Gehirnwäsche und Verrat den RAF-Renegaten Horst Mahler und die RAF insgesamt für ihre „elitäre Verachtung der ausgebeuteten Massen in der BRD“ und die übrige Linke für ihre „Entsolidarisierung“ mit der RAF. Roth interessierte sich dagegen für konkrete Arbeits- und Machtverhältnisse in Großbetrieben.

Nach seiner Genesung ließ sich Roth als Arzt in Hamburg nieder und gründete 1980 als sozialpolitisches Projekt im und für den Hamburger Stadtteil St. Pauli eine Hausarztpraxis, in der er bis 1997 tätig war.

Politisch näherte er sich nicht parteigebundenen linken Bewegungen an. Zugleich veröffentlichte er Bücher zur Sozialgeschichte des Nationalsozialismus, insbesondere über die Verbrechen auf medizinischem Gebiet.

Ab Mitte der 1980er Jahre begann Roth sich mit Unternehmensgeschichte zu beschäftigen. Zusammen mit dem als Herausgeber fungierenden Hans Magnus Enzensberger veröffentlichte er mit seiner Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts einige Untersuchungen des O.M.G.U.S., die dieses Büro nach dem Zweiten Weltkrieg gegen große deutsche Unternehmen durchgeführt hatte: Ermittlungen gegen die Deutsche Bank (1985), die Dresdner Bank (1986) und die I.G. Farben.

1986 war Roth Mitgründer der Zeitschrift 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, die seit 2003 unter dem Titel Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts erscheint. Für diese ist Roth als Redakteur und Autor tätig. Zudem ist Roth weiterhin Vorstandsvorsitzender der u. a. diese Zeitschrift tragenden Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. 1986 wurde er mit einer Arbeit über Filmpropaganda und Vernichtung der Geisteskranken und Behinderten im „Dritten Reich“ als Mediziner promoviert. 1987 war Karl Heinz Roth wiederum mit seiner Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts Herausgeber des Werkes Das Daimler-Benz-Buch – ein Rüstungskonzern im tausendjährigen Reich, dessen eindrücklicher Aufsatz Der Weg zum guten Stern des »Dritten Reichs«. Schlaglichter auf die Geschichte der Daimler-Benz AG und ihrer Vorläufer (1890–1945) aus seiner Feder ist.

1992 legte er seine Dissertation Intelligenz und Sozialpolitik im „Dritten Reich“. Eine methodisch-historische Studie am Beispiel des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront in Geschichtswissenschaft vor und wurde an der Universität Bremen zum Dr. Phil. promoviert. Sein Doktorvater war Hans-Josef Steinberg. Die Arbeit erschien 1993 im Saur-Verlag und wurde 2011 neu aufgelegt.

Ebenfalls 1992 veröffentlichte Roth zusammen mit Angelika Ebbinghaus eine Dokumentation über den im nationalsozialistischen Deutschland stark engagierten Historiker Theodor Schieder. Darin ging es um dessen bis dahin kaum bekannte Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939. Roth äußerte sich in der Folge zur Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, insbesondere zum Verhältnis zwischen Historikern und dem Nationalsozialismus.

Im Jahr 2000 veröffentlichte er die Schrift Anschließen, angleichen, abwickeln, in der er die Planungen westdeutscher Regierungsstellen für den Fall der Wiedervereinigung beschrieb. Zum fünfjährigen Jubiläums-Ratschlag von Attac Deutschland im April 2005 hielt Roth die Abschlussrede mit dem Titel Der Zustand der Welt und die Chancen einer glaubwürdigen Alternative. Er zählt sich zur sogenannten Graswurzelbewegung und ist gleichzeitig als linker Publizist tätig.

Im Jahre 2023 berichtete Roth, dass er über die „Nordroute“ von 1967 bis 1973 desertierte amerikanische Soldaten nach Schweden geschleust habe.

Karl Heinz Roth ist im Beirat des Internetprojektes Informationen zur deutschen Außenpolitik. Die Gruppe Wildcat, in deren gleichnamiger Zeitschrift er publiziert, bezeichnet er als seine politische Heimat. Sein politischer Ansatz ist weiterhin stark vom Operaismus beeinflusst.

Schriften (Auswahl)

Literatur

Film

Weblinks

Commons: Karl Heinz Roth – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Vergleiche die Angaben unter der Gemeinsamen Normdatei der Deutschen Nationalbibliothek
  2. Karsten Linne, Thomas Wohlleben: Für Karl Heinz Roth. In: Karsten Linne, Thomas Wohlleben (Hrsg.): Patient Geschichte. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-86150-015-9, S. 11.
  3. Wolfgang Kraushaar: Der Anschlag. In: taz vom 10. Oktober 2019.
  4. Karsten Linne, Thomas Wohlleben: Für Karl Heinz Roth. In: Karsten Linne, Thomas Wohlleben (Hrsg.): Patient Geschichte. Frankfurt 1993, S. 12 ff.
  5. Dietmar Lange: Betriebsintervention und Internationalismus Anfang der 1970er Jahre. Interview mit Karl-Heinz Roth. In: Arbeit – Bewegung – Geschichte. Zeitschrift für historische Studien. Heft I, 2016.
  6. Lutz Hachmeister: Schleyer. Eine deutsche Geschichte. C. H. Beck, München 2004, S. 18 f.
  7. Karrin Hanshew: Terror and Democracy in West Germany. Cambridge University Press, Cambridge 2012, S. 243.
  8. Lutz Hachmeister: Schleyer. Eine deutsche Geschichte. C. H. Beck, München 2004, S. 18.
  9. Hausarztpraxis St. Pauli, Die Ärzte der Gemeinschaftspraxis in der Talstraße 64 stellen sich vor. Abgerufen am 21. Dezember 2021. 
  10. Karl Heinz Roth verabschiedet sich. In: taz, 15. Dezember 1997.
  11. Homepage: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts.
  12. Homepage von Sozial.Geschichte.
  13. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7, 1992, Heft 1, S. 62–94.
  14. Karl Heinz Roth: Geschichtsrevisionismus. Die Wiedergeburt der Totalitarismustheorie. KVV Konkret, Hamburg 1999, ISBN 3-930786-20-6. Siehe auch Karl Heinz Roth: Das Elser-Problem. Die Misere der Geschichtsschreibung über den antinazistischen Widerstand in der Ära des Kalten Kriegs und ihre Auswirkungen auf den Paradigmenwechsel der neunziger Jahre. In: Achim Rogoss, Eike Hemmer, Edgar Zimmer (Hrsg.): Georg Elser. Ein Attentäter als Vorbild. Edition Temmen, Bremen 2006, ISBN 3-86108-871-1, S. 72–85.
  15. Karl Heinz Roth: Der Zustand der Welt und die Chancen einer erneuten sozialistischen Alternative. Rede im Attac-Rundbrief Sand im Getriebe. Nr. 44, Juni 2005, (PDF; 140 kB). Vgl. die erweiterte Fassung Karl Heinz Roth: Der Zustand der Welt. Gegen-Perspektiven. VSA-Verlag, Hamburg 2005, ISBN 3-89965-138-3.
  16. Olav Wunder: Vietnamkrieg – Der Studentenführer und die „Geheimoperation Nordroute“. In: Unser Hamburg 1/2023, Hamburger Morgenpost Verlag, S. 88–95.
  17. Wildcat Nr. 83, Frühjahr 2009, Inhalt.
  18. Burkhard Müller: Ein Überblick zu Büchern über die Corona-Pandemie. In: sueddeutsche.de. 19. Februar 2022, abgerufen am 12. April 2022. 
  19. Vor 4 Jahren – vor 2 Jahren, dffb-Archiv.
  20. Zwei Protokolle, dffb-Archiv.
Normdaten (Person): GND: 118603159 | LCCN: n84143828 | VIAF: 39383662 |