Evangelium nach Johannes

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Das Evangelium nach Johannes, altgriechisch Ευαγγέλιον Κατὰ Ιωάννην euangelion kata Iōannēn oder kurz Κατὰ Ιωάννην, zumeist als Johannesevangelium oder kurz als Johannes bezeichnet (abgekürzt: Joh), ist ein Buch des Neuen Testaments der Bibel. Als eines der vier kanonischen Evangelien ist es zentral für den christlichen Glauben. Es wurde bereits in der Alten Kirche ebenso wie von der Theologie der Gegenwart als das zuletzt geschriebene Evangelium betrachtet (datiert auf das späte 1. Jh. n. Chr.).

Joh hat in Darstellung und Theologie ein eigenes Profil, während die anderen drei Evangelien viele Ähnlichkeiten miteinander aufweisen (und deshalb die drei synoptischen Evangelien genannt werden).

Die Überschrift „Evangelium nach Johannes“ war im – nicht bewahrt gebliebenen – Original noch nicht enthalten, aber dann einheitlich in den Abschriften. Dabei wurde der Name „Johannes“ bereits in der Alten Kirche einhellig auf den Apostel Johannes bezogen, also auf einen Augenzeugen. Diese Gleichsetzung wird inzwischen von der neutestamentlichen Forschung bezweifelt; sie geht mehrheitlich davon aus, dass sowohl die literarische Gestaltung als auch das theologische Profil des Johannesevangeliums dagegen sprechen, dass ein Augenzeuge und Jünger Jesu der Verfasser des Textes war.

Verfasser

→ Hauptartikel: Johannes (Evangelist)

Buchtitel

Die bereits in den ältesten Textzeugnissen seit dem Ende des 2. Jahrhunderts ( P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 66, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 75) vorhandene Überschrift „Evangelium nach Johannes“ nennt einen „Johannes“ als Verfasser des Evangeliums. Diese Überschrift wird jedoch kaum ursprünglich sein, da sie mit der Präposition „nach“ den Begriff Evangelium als Gattungsbegriff verwendet und so die parallele Existenz mehrerer Evangelien in einer Sammlung voraussetzt. Bei den zwei genannten Handschriften handelt es sich um Sammlungen. Als Einzeltexte identifizierbare Handschriften des Johannesevangeliums existieren nicht.

Angaben im Evangelium über die Verfasserschaft

Einige Angaben im Evangelium erwecken den Eindruck, dass mehrere Personen an der Entstehung beteiligt waren: In der dritten Person wird derjenige genannt, der die berichteten Ereignisse bezeugt; außerdem werden die Leser von einem „wir“ angeredet. Und im letzten Vers des Evangeliums meldet sich ein „ich“ zu Wort:

„Wenn man alles einzeln aufschreiben wollte, so könnte, wie ich glaube, die ganze Welt die dann geschriebenen Bücher nicht fassen.“ (21,25 ).

Dieser als „ich“ Schreibende war offenbar an der Niederschrift beteiligt, zumindest am Ende. Entweder schrieb er eigenhändig, oder er diktierte.

Um den Zeugen geht es beim Sterben Jesu:

„Einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus. Und der es gesehen hat, hat es bezeugt und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, dass er Wahres sagt ...“ (19,34f. ).

Vielleicht sprach dieser Augenzeuge eine Art Bekräftigungs- oder Beteuerungsformel, etwa so: „Ich bin ganz sicher, dass ich das so beobachtet habe!“ In Bezug auf dieses Ereignis wird hervorgehoben, dass der Zeuge (in der Einzahl) weiß, dass sein Zeugnis wahr ist. Alle vier Evangelien stimmen darin überein, dass nur wenige Jünger(innen) bei der Kreuzigung anwesend waren. An anderer Stelle bestätigt eine Mehrzahl die Wahrheit:

„Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, den Jesus lieb hatte, ... Das ist der Jünger, der diese bezeugt, und der dies geschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“ (21,20 und 24 ).

Der Ausdruck „schreiben“ kann manuell niederschreiben oder diktieren bedeuten. Die Bestätigung durch diese in „wir“–Form Auftretenden bezieht sich hier wohl auf mehrere oder so ziemlich alle im Evangelium berichteten Ereignisse. Von einer Mehrzahl bestätigender Augenzeugen erzählt der Kanon Muratori:

„Als ihn seine Mitjünger und Bischöfe aufforderten, sagte er: ‚Fastet mit mir von heute ab drei Tage, und was einem jeden offenbart werden wird, das wollen wir einander mitteilen.‘ In derselben Nacht wurde dem Apostel Andreas offenbart, dass Johannes in seinem Namen alles niederschreiben und alle es durchsehen sollten.“

Diese unterschiedlichen Angaben sind nicht leicht zu einem stimmigen Bild von der Verfasserschaft zu vereinigen.

Der Jünger, den Jesus liebte

Das Evangelium selbst nennt keinen Verfassernamen. Allerdings wird ein Jünger Jesu bezeichnet als der „Jünger, den Jesus liebte“ (19,26 und 21,20–24 ). Dies hebt ihn aber nicht von den anderen Jüngern ab, da Jesus diese genauso liebte. Von diesem wird in Joh 19,25–27 gesagt, dass er unmittelbar bei der Kreuzigung zugegen war. Außerdem wird in diesem Zusammenhang den Augenzeugen des Geschehens eine besondere Zeugenfunktion beigemessen (19,35 ). Am Ende des Evangeliums in 21,24 benennt der Text den „Jünger, den Jesus liebte“ ausdrücklich als seinen Autor:

Das ist der Jünger, der von diesen Dingen zeugt und der dies geschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.

Der Apostel Johannes

Die christliche Tradition hat den namenlosen Lieblingsjünger mit dem Apostel Johannes identifiziert, da von den drei Jüngern, die Jesus nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Evangelien besonders nahestanden – Petrus, Jakobus, Johannes – Jakobus schon im Jahr 44 getötet wurde (Apg 12,2 ) und Petrus ausdrücklich von dem Lieblingsjünger unterschieden wird (Joh 13,15f ; 21,20 ). Auch die nachbiblische Überlieferung berichtet von Johannes als dem Verfasser des vierten Evangeliums. Irenäus von Lyon (120–202) war in seiner Jugend ein Schüler von Polykarp von Smyrna (69–155), der – so schreibt Irenäus – seinerseits ein Schüler des Apostels Johannes war. Dieser habe bis in die Zeit Trajans (98–117) in Ephesos gelebt und dort nach Matthäus, Markus und Lukas seinerseits ein Evangelium herausgegeben:

Zuletzt gab Johannes, der Jünger des Herrn, der auch an seiner Brust ruhte, selbst das Evangelium heraus, als er sich in Ephesos in der Asia aufhielt (Irenäus, Adversus Haereses III 1,1, zitiert auch bei Eusebius, Historia Ecclesiastica V 8,4)

Aus diesen Gründen hat die christliche Tradition den Apostel Johannes als Verfasser angenommen. Diese Position wird heute von vielen, insbesondere biblizistischen und evangelikalen Autoren vertreten. Damit wäre mindestens eines der vier Evangelien auf einen direkten Augenzeugen des Erdenwirkens Jesu zurückzuführen und seine Darstellung der Ereignisse als weitgehend authentisch anzusehen. Hinzu kommt, dass dieser Verfasser nicht nur als Autor der Johannesbriefe, sondern auch der Offenbarung des Johannes angesehen wird, also des gesamten in der Tradition so genannten „Corpus Johanneum“.

Exegeten, die diese Meinung heute vertreten, begründen ihre Position auch damit, dass der Autor eine gute Kenntnis der jüdischen Festzeiten, Sitten und Gebräuche habe. Er kenne Details über Jerusalem (5,2 ) vor der Zerstörung der Stadt im Jüdischen Krieg im Jahr 70, die durch die Archäologie bestätigt worden seien.

Der Presbyter Johannes

Eine andere Auffassung sieht eine weitere Person, den Presbyter (Ältesten) Johannes als wahrscheinlichen Verfasser des Corpus Johanneum an. Dieser wäre nach einem Zeugnis des Papias von Hierapolis (ca. 130, zitiert bei Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte 3,39,4) als „Jünger des Herrn“ deutlich von dem Apostel Johannes, dem Zebedaiden, unterschieden und in 2 Joh 1 und 3 Joh 1 ausdrücklich als Verfasser der Johannesbriefe genannt worden. Das würde nach Inhalt, Sprache und Stilmitteln der Briefe den gleichen Verfasser auch für das Johannesevangelium nahelegen. Der Titel ὁ πρεσβύτερος (ho presbýteros) ist dabei besser gesichert als der Name „Johannes“. Folker Siegert kommentiert: dieser Titel sei nicht mit dem stets pluralisch begegnendem Presbyter-Titel zu verwechseln, sondern bezeichne ein ad personam beanspruchtes Lehramt.

Nach dieser Theorie käme der Apostel Johannes als Verfasser des Johannesevangeliums nicht in Frage und auch nicht als der Lieblingsjünger (siehe 21,24 ). Dazu wird darauf hingewiesen, dass der Apostel Johannes im Evangelium niemals mit Namen genannt oder als Verfasser und „geliebter Jünger“ bezeichnet wird. Auch würden die im Evangelium erzählten Szenen nicht zu den aus den Synoptikern bekannten Erzählungen passen und die anspruchsvollen Sprach- und Stilmerkmale einen schreibungewandten Fischer aus Galiläa ausschließen.

Es ist auch versucht worden, den Presbyter Johannes als Verfasser des Evangeliums mit der hinter dem Kunstnamen „Lazarus“ versteckten Gestalt (Kapitel 11 ) zu identifizieren, da er im Evangelium viermal als derjenige bezeichnet wird, den Jesus „liebte“ (Verse 3, 5, 11 und 36). Die Forschung zum Johannesevangelium ist diesen Interpretationen allerdings nur vereinzelt gefolgt.

Redaktion und johanneische Schule

Die meisten Wissenschaftler gehen heutzutage von mehreren Autoren aus. Es gab einen Autor der Grundschrift des Evangeliums, Autoren, die redaktionellen Erweiterungen besonders in den Kapiteln 15, 16, 17 vorgenommen haben, und einen Herausgeber, der Kapitel 21 geschrieben hat.

Mit seinen 1820 veröffentlichten Argumenten gegen die Autorschaft des Apostels Johannes (Probabilia …) löste Karl Gottlieb Bretschneider eine intensive Diskussion aus. Die aktuelle historisch-kritische Exegese meint in Bezug auf die Verfasserfrage, dass eindeutige Aussagen zur Identifizierung einer bestimmten historischen Gestalt weder aus dem Evangelium noch aus der frühchristlichen Geschichte getroffen werden können, und hält es für unwahrscheinlich, dass der Apostel Johannes der Autor war. Was die Gestalt des Lieblingsjüngers betrifft, so taucht diese nur im Evangelium selbst auf, so dass ihre Historizität strittig sei. Angesichts der ausgearbeiteten umfangreichen Monologe Jesu, der fortgeschrittenen theologischen Reflexion und der vielen Abweichungen von der synoptischen Tradition wird häufig bestritten, dass es sich um Darstellungen eines Augenzeugen handeln könne. Zudem rechnet man weithin nicht mit einem einzelnen Autor, sondern mindestens mit einem weiteren Verfasser, der das Kapitel 21 angefügt und damit erst die Tradition des Lieblingsjüngers als Autor begründet habe.

In diesem Zusammenhang wird manchmal von einer johanneischen Schule oder johanneischen Gemeinde gesprochen, die sich auf die Autorität eines herausragenden Mitglieds stütze, das wegen seiner Nähe zu Jesus selbst für die Authentizität des Textes stehe. Dass es eine johanneische Schule gab, legen die späten Johannesbriefe des Neuen Testaments nahe, die eine ähnliche Terminologie wie das Evangelium verwenden.

Mit dem Lieblingsjünger werde im Text eine apostolische Gestalt neben oder sogar über die Autorität des Petrus gesetzt (13,23–28 , 21,7.20–23 ) und damit eine alternative Tradition begründet. Diese stehe nicht in Konkurrenz zur Tradition einer beginnenden strukturierten Kirche unter der Leitung des Petrus (21,15–18 ), sondern ergänze sie um die ungebundenere, weitgehend gestalt- und ortlose Tradition in den Dimensionen der Liebe und des Geistes, die für das johanneische Christentum prägend sind.

Mit Berufung auf diese Autorität sei in der johanneischen Gemeinde der Text tradiert und dabei auch überarbeitet worden. Für eine solche Gruppenperspektive spreche auch der Hinweis am Schluss des Evangeliums: „wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist“ (21,24 ). Angesichts der sprachlichen und theologischen Geschlossenheit des Endtextes wird dieser Vorgang der Aneignung und Auseinandersetzung mit dem Text heute auch bisweilen bezeichnet mit dem Begriff Relecture („Neu-“, „Wieder-“ oder „Weiterlesen“), der darauf hinweist, dass die Überarbeitungen weniger im Rahmen eines Konkurrenz- oder Korrekturmodells, wie es die älteren Quellen- und Redaktionsmodelle nahelegten, sondern in einem Prozess der Reflexion unter einer gemeinsamen Lektüre vorstellbar seien. Historisch ließen sich also höchstens die Linien dieses Lektüreprozesses, nicht aber die dahinter stehenden Personen oder gar Autoren identifizieren.

Die lange Zeit des Diskurses zwischen christlichen Lehren und gnostischen Religionssystemen in der Antike und Spätantike hinterließ nachweisliche Spuren in den jeweiligen Denksystemen und Begrifflichkeiten. So findet sich in der johanneischen Schule, etwa in der Aussage zum ‚Geist‘ (altgriechisch πνεῦμα pneũma „Geist“, „Hauch“, „Luft“, „Atem“) und ‚Fleisch‘ (altgriechisch σάρξ sarx „das (rohe) Fleisch“): „Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts.“ (Joh 6,63 ).

Datierung

P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 52 (recto) als ältestes Textzeugnis des Johannesevangeliums (vermutlich 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts)

Papyrus 52

Das älteste bislang gefundene Textzeugnis für das Johannesevangelium und für das Neue Testament überhaupt ist das Papyrusfragment P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 52. Das Fragment wurde 1920 auf einem ägyptischen Markt erworben und stammt wahrscheinlich auch aus Ägypten. Es ist wenige Quadratzentimeter groß und enthält auf der Vorderseite Teile der Verse Joh 18,31–33 , auf der Rückseite Fragmente der Verse Joh 18,37–38  des Evangeliums. Aufbewahrt wird es in der John Rylands Library in Manchester. Der Herausgeber Colin Henderson Roberts datierte das Dokument aufgrund der Schriftart etwa auf das Jahr 125 n. Chr. Es sind in der Forschung auch frühere Datierungen ab etwa 100 genannt worden. Neuerdings werden solche Ansätze bezweifelt, da eine Bestimmung allein aufgrund der Schriftart ungenau sei. Der Text stamme wohl eher aus der Zeit zwischen 130 und 150 n. Chr. oder nach vereinzelten Meinungen sogar erst aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Jedenfalls bildet dieses Fragment den wichtigsten äußeren Anhaltspunkt für die Datierung des Johannesevangeliums. Wenn man damit rechnet, dass der Text noch eine Zeit brauchte, um bis nach Ägypten zu gelangen, wird man eine Abfassungszeit jedenfalls vor 130 n. Chr. annehmen können. Damit werden die historisch-kritischen Theorien über eine Entstehung des Evangeliums in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts – so lehrte die Tübinger Schule im 19. Jahrhundert – hinfällig.

Datierung um 90–100 n. Chr.

Heutzutage datieren Vertreter der historisch-kritischen Schule das Johannesevangelium aus inneren Gründen meist auf das Ende des ersten Jahrhunderts. Als frühestes Datum kommen für viele Exegeten die Jahre nach 80 in Frage, da das Johannesevangelium eine fortgeschrittene Entfremdung vom synagogalen Judentum dokumentiere (9,22 , 12,42 , 16,2 ) und auf den so genannten „Synagogenausschluss“ für Abtrünnige historisch zurückblicke. Nach Udo Schnelle wird von 11,48 die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 bereits vorausgesetzt.

Frühdatierung

Einige Forscher geben auch frühere Daten an, so zum Beispiel William Foxwell Albright vor 80, John A. T. Robinson vor 70, ebenso Carsten Peter Thiede. Auch Klaus Berger (1997) vertritt die Ansicht, das Johannesevangelium sei früh entstanden. In seinem Buch Im Anfang war Johannes versucht er, die übliche Datierung zu widerlegen. Ein zentrales Argument ist dabei die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70, die keinen Niederschlag im Johannesevangelium gefunden habe (auch nicht in 2,19 und 11,48 ), obwohl dieses Ereignis Christen wie Juden erschüttert haben müsse. Der vermeintliche Antijudaismus und die entwickelte Christologie und Theologie sind für ihn keine zwingenden Argumente für eine Spätdatierung. Das Wort vom Synagogenbann deutet er im Sinne der allgemeinen Verfolgung. Es gehe um ein Anfangsstadium, in dem die Trennung von der Synagoge gerade von dieser selbst vollzogen werde. Daher datiert Berger das Johannesevangelium in die Zeit zwischen 67 und 70. Grundsätzlich lässt sich die Hypothese der Frühdatierung nicht ausschließen, sie wird jedoch mehrheitlich abgelehnt.

Entstehungsort

Nach dem frühchristlichen Zeugnis des Irenäus von Lyon wurde das Evangelium in Ephesos geschrieben. Dieser Hinweis hat bis heute viele Befürworter gefunden. Allerdings ist ihm auch widersprochen worden unter Hinweis auf folgende Beobachtungen im Text, die eher auf eine Lokalisierung im palästinischen Raum hinweisen:

Die im Johannesevangelium andererseits durchgehend zu beobachtende kontroverse Haltung zu „den Juden“ – womit näherhin die jüdische Führung gemeint ist – macht deutlich, dass die johanneische Gemeinde wohl durchaus konfliktreichen Kontakt zu jüdischen Gemeinden hatte. Eine solche Situation ist kaum wahrscheinlich für die Zeit Jesu, wohl aber für die Situation nach dem Jahr 70, als sich das Judentum nach dem Sieg der Römer über die aufständischen Juden und der Zerstörung des Tempels neu sammelte und gegen äußere Bedrohungen und Irritationen wappnete. Klaus Wengst hat diese Situation zum Ausgangspunkt genommen für eine historische Einordnung der johanneischen Gemeinde. Er lokalisiert die Gemeinde in den südlichen Gebieten des Königreichs von Herodes Agrippa II., also im nördlichen Ostjordanland, östlich des Sees Genezareth in Batanäa, der Gaulanitis und der Trachonitis, wo die jüdische Sammlung vor allem stattfand. Dieser Theorie ist widersprochen worden mit dem Hinweis, Wengst habe die religionsgeschichtliche Situation zwischen aufstrebendem Christentum und sich neu konsolidierendem Judentum zwar richtig beschrieben, daraus lasse sich aber keine Lokalisierung zwingend ableiten. Die beschriebene Konfliktsituation könne an jedem Ort des Aufeinandertreffens von christlichen Gemeinden mit Synagogen auftreten – zum Beispiel auch in Ephesos, wo nachweislich jüdische und christliche Gemeinden existierten. Die Frage des Entstehungsortes des Evangeliums ist also weiterhin nicht sicher zu beantworten.

Prolog und Aufbau

Übersicht

Die grobe Gliederung und der Aufbau des Evangeliums:

Grundschrift versus Redaktor

Das Evangelium nach Johannes, obgleich ein theologisch geschlossenes Ganzes, zeigt sich nicht als literarische Einheit. Zwei wichtige Abschnitte geben einen Hinweis auf die Frage der „literarischen Einheit“:

Zu unterscheiden sind deshalb:

Der Adler dient oft als Symbol und Attribut für den Evangelisten Johannes, hier in der Bamberger Apokalypse

Einzelne Abschnitte

Das Johannesevangelium beginnt nicht mit der Geburt, Kindheit oder Taufe Jesu, sondern mit einem tiefgründigen Prolog in der Form eines strophischen Liedes (1,1–18 ):

Im Anfang (ἀρχή) war das Wort (λόγος) und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.

Zielpunkt dieser und der folgenden drei Strophen ist Vers 14:

Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. Beginn des Johannesevangeliums auf Griechisch

Der Prolog erhält einen starken Sprachrhythmus, indem er jeden neuen Begriff im jeweiligen Folgesatz aufgreift, weiterführt und in jeder Strophe einen neuen Gedanken durchführt. Seine Begriffe und Form beziehen sich auf den ersten Schöpfungsbericht der Tora (Gen 1 ), der ähnlich beginnt („Am Anfang …“) und Gottes Hinwendung zur Welt als ein ordnendes, die Gegensätze von Licht und Finsternis, Tag und Nacht usw. scheidendes Handeln beschreibt. So wie dieses auf das Erschaffen des Menschen als Gottes Ebenbild zuläuft, so läuft hier alles auf die Menschwerdung des Wortes zu, durch das Gott alles gemacht hat. Der Prolog legt also das Kommen Jesu Christi als Fleischwerdung des ewigen Wortes aus, das von Anfang an Gottes Wille war und seine Schöpfung vollendet.

Der Prolog tritt an die Stelle der Abstammungslisten und Geburtslegenden im Lukas- und Matthäusevangelium. Er nimmt wie in einer Ouvertüre die Themen vorweg, die das ganze Evangelium dann ausführt: Das Wort ist Fleisch geworden, hat unter uns gewohnt und wir sahen seine Herrlichkeit. Dies wird auch als Leseanweisung für die drei Hauptteile verstanden:

Inhalt

Der erzählerische Rahmen reicht vom Zeugnis Johannes des Täufers (1,19 ) über das öffentliche Wirken Jesu (2–12 ) und die Offenbarung vor seinen Jüngern (14–17 ) bis zu seiner Kreuzigung (18–19 ) und den Erscheinungen des Auferstandenen vor Zeugen (20 ) und am See von Tiberias (21 ).

Im Zentrum des Johannesevangeliums steht die Botschaft, dass Jesus der Sohn Gottes sei. Dies gipfelt in Aussagen wie

Ich und der Vater sind eins (10,30 ).

Dieses hohe Selbstbewusstsein Jesu provoziert den Vorwurf der Gotteslästerung, der von einigen Juden gegen Jesus erhoben wird und auch handgreiflichen Ausdruck findet in Versuchen, Jesus zu steinigen (10,31–33 ). Dem setzt der johanneische Jesus entgegen, dass er in die Welt gekommen sei, um den Menschen die Nähe Gottes zu vermitteln. Wer an Jesus und seine göttlichen Werke glaube, der glaube damit auch an Gott. In ihm verkörpere sich die Liebe Gottes, die allein den Menschen zu retten vermöge:

Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. (3,16–17 )

Den Höhepunkt der Selbstmitteilung Jesu im Johannesevangelium bilden die so genannten Abschiedsreden (14–17 ), in denen Jesus die Einheit mit Gott auch seinen Jüngern verspricht. Der Paraklet werde ihnen die Erkenntnis bringen:

Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin in euch. (14,20 )

Schließlich bittet Jesus um dieses Einheitserlebnis für alle, die an ihn glauben.

Aber ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben. Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast; denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir. (17,20–23 )

Nach dem Johannesevangelium führt die Erkenntnis des Einsseins mit Gott dazu, dass der immer unbefriedigte Mensch von seinem unersättlichen Lebensdurst befreit wird:

Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt. (4,13–14 )

Zu dieser Erkenntnis führen vor allem auch die „Zeichen“ Jesu (griechisch σημεῖα). Das sind sieben ausdrücklich so bezeichnete oder als solche verstandene Taten Jesu:

  1. die Wandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11 )
  2. die Heilung des Sohnes des „Königlichen (Beamten)“ (Joh 4,46–54 )
  3. die Heilung am Teich Bethesda (Joh 5,1–16 )
  4. das Speisungswunder am See Genezareth (Joh 6,1–14 )
  5. der Seewandel (Joh 6,16–26 )
  6. die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9,1–41 )
  7. die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–44 ).

Die Bedeutung der „Zeichen“ für die Aussageabsicht des Johannesevangeliums wird im vorläufigen Abschlussvers 20,31 hervorgehoben:

Diese (Zeichen) aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.

Textgestalt und Literarkritik

Beginn des Johannesevangeliums im Papyrus P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 75, ca. Ende 2. Jahrhundert

Nachdem mit den historisch-kritischen Methoden im 20. Jahrhundert differenzierte Theorien zur Komposition, zu möglichen literarischen Quellen und redaktionellen Überarbeitungen des möglicherweise unter starkem gnostischem Einfluss stehenden Evangeliums vorgelegt wurden, wird in den letzten Jahren die literarische Einheit des Johannesevangeliums wieder stärker betont.

Unbestritten gilt der Abschnitt 7,53–8,11 mit der Ehebrecherin als nicht ursprünglich zum Evangelium gehörig, weil er von den Handschriften vor dem 5. Jahrhundert (unter anderem P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 66, P {\displaystyle {\mathfrak {P}}} 75) nicht bezeugt ist und auch sprachlich aus dem Rahmen fällt. Daneben wird überwiegend das Kapitel 21 als Nachtrag zum bereits bestehenden Evangelientext (Joh 1–20) identifiziert, weil in 20,30–31 bereits ein ausgesprochener Buchschluss vorliegt und sich der Verfasser von Kapitel 21 deutlich vom Verfasser dieses Schlusswortes abhebt (21,24 ). Von Forschern, die das Kapitel 21 als eine spätere Redaktion ansehen, wird häufig auch die Hervorhebung der Gestalt des Lieblingsjüngers dieser Überarbeitung zugeschrieben. Es ist also fraglich, ob der Lieblingsjünger überhaupt eine historische Gestalt ist. Die Beantwortung dieser Frage hat erhebliche Konsequenzen für die Identifizierung des Autors des Evangeliums (siehe Verfasser).

An weiteren Stellen des Evangeliums hat die historisch-kritische Exegese Kohärenzprobleme im Text festgestellt. So scheint in 4–7 die Abfolge der Aufenthalte Jesu in Jerusalem und Galiläa durcheinandergeraten zu sein. Diese Unordnung könnte durch einfache Umstellung der Reihenfolge von Kapitel 5 und 6 behoben werden. Des Weiteren schließt anscheinend 18,1 besser an 14,31 an, weil der Aufforderung Jesu zum Fortgehen keine entsprechende Handlung in 15,1 folgt. Wenn es hier nicht nur um (versehentliche) Unordnung geht, schließen Vertreter einer Redaktionshypothese aus diesem Befund, dass ein vorliegender Text von einem Redaktor überarbeitet und erweitert wurde, ohne dass die Nahtstellen unkenntlich gemacht wurden. Andere Forscher halten die Brüche im Text für inhaltlich erklärbar oder sogar für vom Autor beabsichtigte dramaturgische Hinweise und schreiben die Gesamtkomposition dem Evangelisten zu.

Noch weitergehend sind Theorien, die mit der Aufnahme von Quellenschriften rechnen. Als eine solche Quelle wird vor allem eine Sammlung von Wundererzählungen angesehen, die man deshalb Semeia-Quelle (von griechisch σημεῖον „Zeichen“) genannt hat. Auch wird teilweise angenommen, der Passionsbericht 18–19 habe in einer gewissen Form bereits vorgelegen und sei in das Evangelium eingearbeitet worden. Diese Forschungsrichtung vertritt vor allem der Kommentar von Jürgen Becker, der außerdem in der Tradition Rudolf Bultmanns von einer umfangreichen „kirchlichen Redaktion“ ausgeht.

Alle diese Theorien nehmen Textvorlagen und Traditionen an, die historisch nicht greifbar sind. Quellenschriften oder ursprünglichere abweichende Textversionen des Evangeliums existieren nicht. Diese Tatsache und die weite Bandbreite der Hypothesen zur Literarkritik des Johannesevangeliums haben die Skepsis gegenüber solchen Lösungen in den letzten Jahren erheblich gesteigert. Unter den Exegeten, die von einer literarkritischen oder gemeindegeschichtlichen Zugangsweise kommend, mittlerweile eine synchrone intertextuelle Lektüre vertreten, ist im deutschen Sprachraum vor allem Hartwig Thyen zu nennen, darüber hinaus auch Raymond E. Brown und Fernando F. Segovia. Im nordamerikanischen Raum etablierte Robert Alan Culpepper (Anatomy of the Fourth Gospel, 1983) die synchrone, narratologische Auslegung; auch die Kommentare von Ludger Schenke, Ulrich Busse und Jean Zumstein sind diesem Auslegungstyp zuzuordnen. Bei Unterschieden im Detail erarbeiten diese Exegeten, wie der Text als autosemantisches Ganzes „funktioniert“; dass der Text eine Vorgeschichte hatte, gewachsen ist, wird durchaus zugestanden, interessiert aber weniger.

Verhältnis zu den synoptischen Evangelien

Die Frage der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Johannesevangeliums von den drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) wurde in der Geschichte der Auslegung des vierten Evangeliums unterschiedlich beurteilt. Auch in der aktuellen Forschung besteht kein Konsens, wobei zahlreiche Exegeten mittlerweile wieder von einer Kenntnis zumindest des Markusevangeliums ausgehen. Das Verhältnis zu den synoptischen Evangelien ist schwer zu bestimmen, weil das Johannesevangelium einerseits in Aufbau, Sprache, Stil und Stoff erhebliche Unterschiede zu den Synoptikern aufweist, andererseits aber an zahlreichen Stellen den gleichen Inhalt bietet oder zumindest ähnliche Strukturen erkennen lässt. Folgende Übersichten stellen die wichtigsten Gegensätze und Gemeinsamkeiten dar:

Gemeinsamkeiten mit den Synoptikern

Johannes Abschnitt Synoptiker
4,46–54 Heilung des Sohnes eines Königlichen Lk 7,1–10 
6,1–21 Speisung der Fünftausend und Jesu Wandel über den See Mk 6,32–52 
12,12–15 Einzug in Jerusalem Mk 11,1–10 
13,1–30 Letztes Mahl und Kennzeichnung Judas als „Überlieferer“ Mk 14,12–21 
18,2–12 Die Verhaftung Jesu im Garten Gethsemane Mk 14,43–53 
18,12ff Die Vernehmung vor dem jüdischen Hohen Rat, die Verhandlung vor Pilatus und die Kreuzigung Mk 14,53ff 

Besonderheiten des Johannesevangeliums

Merkmal
Der Prolog des Johannesevangeliums (1,1–18 ) ist in seiner hymnisch-reflektierenden Art einzigartig.
Die Auferweckung des Lazarus von den Toten wird nur im Johannesevangelium erzählt und erhält dort als letztes und größtes „Zeichen“ Jesu besonderes Gewicht (11 ).
Auffällig sind die häufigen und langen Reden Jesu, vor allem die Abschiedsreden, die sich ohne größere Unterbrechungen über fast fünf Kapitel erstrecken (13–17 ).
Die Reden Jesu drehen sich häufig um seine eigene Person („Ich-bin“-Worte) und verwenden intensive Metaphern („lebendiges Wasser“, „Licht der Welt“, „Brot des Lebens“).

Unterschiede zu den Synoptikern

Johannes Thema Synoptiker

Jesus spricht in längeren meditativ-theologischen Reden.
Sprechweise Jesu

Es liegen verschiedene Sprechsituationen (öffentlich/Jüngerkreis) und Adressatenkreise vor.


Bei den Synoptikern spricht Jesus in kurzen Sätzen und Gleichnissen.

Mehrere längere Aufenthalte in Jerusalem werden erwähnt, die nur jeweils kurz durch Reisen nach Galiläa unterbrochen sind. Jesus wirkt vor allem in Jerusalem.
Reisen Jesu
Jesus begibt sich mehrmals von Galiläa nach Jerusalem.

Bei Johannes steht die Tempelaustreibung programmatisch am Anfang, im zweiten Kapitel seines Evangeliums. (2,13–22 ).
Jesu Vertreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel
Laut den Synoptikern geschieht die Tempelaustreibung gegen Ende des Wirkens Jesu (Mk 11,15–18 ) als Anstoß für seine Gegner und Ursache für seine Beseitigung.

Jesus verzichtet bei Johannes ausdrücklich auf eine Bitte um Verschonung vor dem Leiden (12,27 , 18,11 ).
Jesus in Gethsemane
Bei den Synoptikern bittet Jesus Gott, den Kelch an ihm vorübergehen zu lassen (Mk 14,36 )

Das „Es ist vollbracht!“ gleicht einem Triumphruf (Ende des Psalm 22 – Vers 32c)
Jesu letztes Wort am Kreuz
Jesus klagt über seine Gottverlassenheit (Beginn des Psalm 22 – Vers 2)

Jesu Todestag ist der Rüsttag des siebentägigen Pessachfestes (der 14. Nisan).
Die zeitliche Abfolge der Erzählung von Jesu Leiden
Bei den Synoptikern ist der Todestag Jesu der erste volle Festtag des Festes (15. Nisan)

Unterschiedliche theologische Akzente am Beispiel des Abendmahls

Die Schilderung des ‚letzten Abendmahls‘ in Joh 13 weicht stark von der Erzählung in den synoptischen Evangelien (Mk 14; Mt 26; Lk 22) ab. Zwar berichten alle vier Evangelisten von einem Mahl, das in der letzten Nacht vor der Kreuzigung stattfindet, allerdings unterscheidet sich die synoptische von der johanneischen Chronologie. Auch der Verlauf des Abendmahls wird unterschiedlich geschildert, besonders auffällig ist dabei das Fehlen der Einsetzungsworte im Johannesevangelium. Zudem erzählt nur Johannes, dass Jesus den Jüngern während des Mahls die Füße wäscht. Die Deutung der Fußwaschung ist in der Forschung umstritten, oft wird sie als Akt der Demut und Gnade und damit als Symbolisierung der Kreuzigung verstanden. Warum der Evangelist Johannes auf die Einsetzungsworte verzichtet, wird ebenso kontrovers diskutiert. Einige Exegeten, die die Einsetzungsworte bei den Synoptikern als Kultätiologie für frühchristliche eucharistische Mähler verstehen, vermuten eine antisakramentale Einstellung des Evangelisten Johannes. Andere Forscher gehen davon aus, die Eucharistielehre sei im Johannesevangelium schon in der „Brotrede“ (Joh 6,51–58) behandelt worden, da Jesus hier scheinbar behauptet, der Verzehr seines Fleisches und Bluts sei die Zugangsvoraussetzung zum ewigen Leben, und müsse demnach in Joh 13 nicht noch einmal aufgegriffen werden. Doch die Deutung der Brotrede als eucharistische Rede ist nicht unumstritten, wird doch in der neueren Forschung ein metaphorisches (im Gegensatz zu einem „eucharistischen“) Verständnis der Brotrede plausibel gemacht. Darüber hinaus entwickelte sich die Eucharistie als Ritual individueller Heilsaneignung mit zeichenhaften Mahlportionen erst im 3. Jahrhundert n. Chr. (die sogenannten Einsetzungsworte als Teil der Mahlgebete sind erst in der Traditio Apostolica belegt), demnach ist eine kultätiologische Deutung der sogenannten Einsetzungsworte und der Brotrede problematisch.

Deutungen der Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Bereits in der Antike und Spätantike wurde wegen dieser Unterschiede der historische Wahrheitsgehalt der Evangelien bestritten, etwa in der Schrift Contra Christianos des Porphyrios. Sie geben bis heute Gegnern des Christentums Anlass zu Kritik. Die Widersprüche sind aber auch in der innerkirchlichen und exegetischen Diskussion eine andauernde Herausforderung.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten machen ein klares Urteil über die Beziehung des Evangeliums zu den Synoptikern unmöglich. Viele Exegeten nehmen an, dass der Evangelist das Markusevangelium und vielleicht auch – vor allem im Passionsbericht – das Lukasevangelium gekannt hat oder diese Kenntnis bei seinen Lesern voraussetzt. Die synoptischen Evangelien werden jedoch nicht erkenntlich als Quellen oder schriftliche Vorlagen verwendet, auch nicht dort, wo das Johannesevangelium den gleichen Stoff bietet. Es stellt vielmehr übereinstimmendes Traditionsmaterial sehr eigenständig dar. Daher vermuten einige wenige Forscher sogar, Johannes habe möglicherweise Zugang zu Quellen oder Traditionen besessen, die unabhängig vom Markusevangelium als dem ältesten Evangelium waren und sehen daher eine Priorität des Johannesevangeliums, die sich teilweise auch auf die Datierung bezieht (Frühdatierung).

Angesichts dieser Forschungslage bleibt lediglich festzustellen: Das Johannesevangelium will weder als Ergänzung noch als Korrektur der synoptischen Evangelien gelesen werden, sondern als eigenständiges Werk.

„Die Juden“

Das Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Juden bzw. Judäern (Ιουδαίοι) ist äußerst ambivalent. Auf der einen Seite wird Jesus ausdrücklich als Jude dargestellt (4,9 ) und grundsätzlich festgehalten: „Das Heil kommt von den Juden“ (4,22 ). Außerdem sind auch seine Anhänger zum größten Teil Juden, vor allem die zwölf Apostel. Auf der anderen Seite werden massive Konfliktsituationen zwischen Jesus und „den Juden“ geschildert; hier entsteht der Eindruck einer grundsätzlichen Feindschaft.

Vom Zusammenhang her ist klar, dass der Ausdruck „die Juden“ nicht die Gesamtheit der damaligen Juden meint. Wenn es heißt, „die Juden hoben Steine auf, um Jesus zu steinigen“ (10,31 ), dann waren vielleicht nur mehrere Juden aktiv, nicht unbedingt alle gerade anwesenden Juden. Der Ausdruck „die Juden“ meint die religiösen Führer und eventuell noch von diesen beeinflusste Juden.

Die Darstellung dieser Auseinandersetzung bei Johannes geht über die Darstellung in den Synoptikernhinaus; diese schildern lediglich einige Streitgespräche zwischen Jesus und vor allem den Pharisäern schildern. Allen Evangelien gemeinsam ist die Darstellung der jüdischen Führung als den Betreibern der Auslieferung Jesu an die Römer zur Kreuzigung (18 ).

Die kritische Darstellung „der Juden“ im Johannesevangelium ist in der Geschichte des Christentums oft als Anlass für judenfeindliche Haltungen und Aktionen genommen worden. Dabei wurden einseitig die negativen Darstellungen gegenüber den positiven in den Vordergrund gerückt und zu Pauschalverurteilungen des jüdischen Volkes missbraucht.

Skulptur der Grablegung Jesu (1509) mit Nikodemus (links) und Josef von Arimathäa (rechts), die durch hebräische Kleidungsinschriften als Juden dargestellt werden

Die Konflikte zwischen Jesus und „den Juden“ liegen gemäß dem Johannesevangelium im Unverständnis der jüdischen Führer für Jesu Anspruch. Als „das Wort Gottes“ (1,1 ) vermittelt er einen unmittelbaren Zugang zu Gott. Diese Darstellung zeichnet sich bereits als Grundlinie ab in der nächtlichen Begegnung zwischen dem Pharisäer Nikodemus und Jesus (3,1–21 ). Nikodemus erscheint hier als aufgeschlossen gegenüber Jesus, aber es ist erkennbar, wie schwer das Anliegen Jesu zu erfassen ist („Ihr müsst von oben geboren werden“ 3,7 ). Während Nikodemus noch als dialogbereit gezeichnet wird und sich zu einem Anhänger Jesu entwickelt (19,38–40 ), führen andere Streitgespräche zwischen Jesus und „den Juden“ über das Sabbatgebot (5,16–18 ) oder die Bedeutung der Abstammung der Juden (8,39–59 ) zu Konflikten, die in versuchten Steinigungen Jesu münden und letztlich zur Auslieferung Jesu an die Römer führen. Zuspitzungen wie zum Beispiel die Aussage, die jüdischen Gegner Jesu hätten „den Teufel zum Vater“ (8,44 ) erwachsen aus solchen konkret geschilderten Konfliktsituationen und dürfen daher nicht als generelle Aussagen über das Judentum verstanden werden.

In den vom Johannesevangelium geschilderten Auseinandersetzungen mit dem Judentum spiegelt sich für historisch-kritische Exegeten die Situation nach dem Ausschluss der Christen aus der Synagoge (nach 70). Demnach würde das Johannesevangelium die Grundlinien des Konflikts zwischen dem aufstrebenden Christentum und dem sich nach der Katastrophe des jüdischen Krieges wieder konsolidierenden Judentum beschreiben. In diesem Zusammenhang sind auch die guten Kenntnisse des Johannesevangeliums über jüdische Riten und Traditionen und den jüdischen Festkalender hervorzuheben. Diese erklären sich am ehesten aus einer großen Nähe zu jüdisch-biblischen Traditionen.

Rezeption

Literatur

Einleitung

Neuere Kommentare

Studien zu Einzelfragen

Verfasser, Datierung, mögliche Quellen

Johannesevangelium und Johannesbriefe

Verhältnis zu den synoptischen Evangelien

Soziologische Hintergründe

Literarische Struktur, Texttheorie und Metaphorik

Ausgewählte theologische Themen

Gottesbild

Christologie

Eschatologie

Liebe im Johannesevangelium

Beziehung zum Judentum und zum Alten Testament

Rezeptionsgeschichte

Weblinks

Commons: Evangelium nach Johannes – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Hartwig Thyen: Das Johannesevangelium. S. 2.
  2. So Armin D. Baum: Einleitung in das Neue Testament. Evangelien und Apostelgeschichte. Brunnen, Gießen 2017, S. 775f.
  3. Zur möglichen Deutung siehe Franz Graf-Stuhlhofer: Verfasser und Herausgeber des Johannes-Evangeliums: Johannes („er“), ein Schreiber („ich“), und mehrere Augenzeugen („wir“), in: Glauben und Denken heute, Heft 1 von 2023, S. 42–47.
  4. Urban C. von Wahlde: Archaeology and John’s Gospel. In: James H. Charlesworth (Hrsg.): Jesus and Archaeology. Eerdmans, Grand Rapids 2006, S. 523–586. „Diese Studie zeigt, dass wenigstens die topographischen Informationen des Evangeliums als solche … keine Konstruktionen sind … und keine ‚späten‘ Züge zeigen. Sie sind ganz und gar historisch. Es trifft deshalb eher zu, dass das Evangelium eine Mischung von Traditionen repräsentiert, von denen einige genau, detailliert und historisch, andere aber spät, fortentwickelt und für das öffentliche Auftreten anachronistisch sind.“ (ebd., S. 585 f.)
  5. S. M. Hengel, Die johanneische Frage, 79ff.321ff; W.G. Kümmel, Einleitung in das NT, 19.A., 1978, 206ff; P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2, 203ff zur Person des Presbyters Johannes.
  6. Folker Siegert: Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt. Wiederherstellung und Kommentar. S. 62–81. „Johannes ‚der Senior‘ als Autor“. Jörg Frey unterzieht Siegerts Kommentar einer grundsätzlichen Kritik: hiermit sei der „Gipfel des Idiosynkratischen erreicht“, Literarkritik wie vor 100 Jahren; der von Siegert daraus abgeleiteten Rekonstruktion des historischen Jesus wird eine Akzeptanz in der Fachwelt von „nahe null“ vorhergesagt. Vgl. Jörg Frey: Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften, Band 1 (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. Band 307). Tübingen 2013, S. 20.
  7. S. R. Nordsieck, Johannes, 3ff.120ff; G. Keil, Johannesevangelium, 175f.180f.240ff; A. Stimpfle, Blinde sehen, 128f.143f; M.W.G. Stibbe, John as Storyteller, 81ff unter anderem zur Identifikation mit dem „Lazarus“. Auch Rudolf Steiner sah in Lazarus den Lieblingsjünger.
  8. Prof. Dr. Thomas Söding, Lehrstuhl Neues Testament, Ruhr-Universität Bochum, Vorlesung "Das Johannesevangelium" Sommersemester 2010
  9. James H. Charlesworth: The Beloved Disciple. Whose Witness Validates the Gospel of John?
  10. Udo Schnelle: Das Evangelium nach Johannes. S. 5.
  11. Ingo Broer: Einleitung in das Neue Testament. S. 192–195.
  12. Klaus Wengst: Das Johannesevangelium. Band 2, S. 326 f.
  13. Jean Zumstein: Ein gewachsenes Evangelium. Der Relecture-Prozess bei Johannes. In: Thomas Söding (Hrsg.): Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen. S. 9–37.
  14. Ernst Dietzfelbinger (Übersetzer): Das Neue Testament. Interlinearübersetzung Griechisch-Deutsch. Griechischer Text: Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 28., revidierte Auflage 2012, Brockhaus, Witten 2018, ISBN 978-3-417-25403-7, S. 423.
  15. Petr Pokorný, Ulrich Heckel: Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick. Mohr Siebeck, Tübingen 2007, ISBN 978-3-16-148011-9, S. 584.
  16. Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament. 4. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, S. 520.
  17. Klaus Berger: Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums. Quell, Stuttgart 1997, ISBN 3-7918-1434-6.
  18. Klaus Berger: Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums. S. 84–90.
  19. Klaus Berger: Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums. S. 83.
  20. Klaus Berger: Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums. S. 94.
  21. Michael Labahn, Manfred Lang: Johannes und die Synoptiker. In: Jörg Frey, Udo Schnelle (Hrsg.): Kontexte des Johannesevangeliums. Mohr Siebeck, Tübingen 2004, ISBN 3-16-148303-0, S. 478.
  22. Petr Pokorný, Ulrich Heckel: Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick. Mohr Siebeck, Tübingen 2007, ISBN 978-3-16-148011-9, S. 547, S. 584.
  23. Irenäus, Adv Haer III 1,1, zitiert auch bei Eusebius, Hist Eccl V 8,4; vgl. oben
  24. Klaus Wengst: Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium.
  25. Udo Schnelle: Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule. (FRLANT 144), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, ISBN 3-525-53823-5, S. 12; 16–18
  26. Claus Westermann: Abriss der Bibelkunde. Calwer Verlag, Stuttgart 1979, ISBN 3-7668-0620-3, S. 164 f.
  27. Klaus Wengst: Das Johannesevangelium. Band 1, S. 43.
  28. Udo Schnelle: Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, ISBN 3-525-53823-5, S. 11–36.
  29. Hans-Jochen Jaschke: Das Johannesevangelium und die Gnosis im Zeugnis des Irenaus von Lyon. Münchener Theologische Zeitschrift 29. Jahrgang, 1978, Heft 4, S. 337–376 (PDF 1,374 kB; 40 Seiten auf mthz.ub.lmu.de)
  30. Vor allem an folgenden Stellen: 13,23ff , 19,26f , 20,2ff ; der Lieblingsjünger ist vielleicht auch noch 1,35–40 und 18,15f gemeint
  31. Ludger Schenke: Das Evangelium nach Johannes. S. 237–238.
  32. Friedhelm Wessel: „Steht auf, lasst uns von hier fortgehen“ (PDF; 124 kB)
  33. Georg Richter: Zur sogenannten Semeia-Quelle des Johannesevangeliums. Studien zum Johannesevangelium, BU 13, Regensburg 1977 (PDF 471 kB; 10 Seiten (Memento des Originals vom 16. Oktober 2019 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/pdfs.semanticscholar.org auf pdfs.semanticscholar.org, online S. 64–73)
  34. Ingo Broer: Einleitung in das Neue Testament. S. 186.
  35. Jörg Frey: Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften, Band 1 (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. Band 307). Tübingen 2013, S. 21–23.
  36. Ingo Broer: Einleitung in das Neue Testament. S. 198, stellt die radikale Unterschiedlichkeit der Auffassungen dar und kommt zu dem Schluss, die Behandlung dieser Frage stelle daher „kein Ruhmesblatt für die neutestamentliche Exegese dar“.
  37. Vgl. dazu und zur Geschichte dieser Frage ausführlich Jörg Frey: Das Vierte Evangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition. Zum Problem: Johannes und die Synoptiker. In: Thomas Söding (Hrsg.): Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen. S. 60–118.
  38. David Instone-Brewer: Jesus’s Last Passover: The Synoptics and John. In: The Expository times, Jg. 112 (2001), S. 122.
  39. Charles Barrett: Das Evangelium nach Johannes. Göttingen 1990, S. 429.
  40. Jan Heilmann: Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen. Stuttgart 2014, S. 14f.
  41. Rudolf Schnackenburg: Das Johannesevangelium, dritter Teil. Kommentar zu Kapitel 13–21 (= Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. 4,3). Herder, Freiburg 1975, S. 48f.
  42. Rudolf Schnackenburg: Das Johannesevangelium, dritter Teil. Kommentar zu Kapitel 13–21. Herder, Freiburg 1975, S. 49.
  43. Jan Heilmann: A Meal in the Background of John 6:51–58? In: Journal of Biblical Literature, Jg. 137 (2018), S. 493–496.
  44. Jan Heilmann: Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen. Stuttgart 2014, S. 18f.
  45. Jörg Frey: Das Vierte Evangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition. Zum Problem: Johannes und die Synoptiker. In: Thomas Söding (Hrsg.): Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen. S. 61–64.
  46. Siehe den Überblick bei Jörg Frey: Das Vierte Evangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition. Zum Problem: Johannes und die Synoptiker. In: Thomas Söding (Hrsg.): Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen. S. 71–76.
  47. So zum Beispiel Maria Neubrand: Das Johannesevangelium und „die Juden“. Antijudaismus im vierten Evangelium? (Memento vom 29. Oktober 2013 im Internet Archive) In: ThGL 99, 2009, S. 205–217.
  48. So vor allem Klaus Wengst: Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium.
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