Jean-Pierre Serre

Jean-Pierre Serre (2009)

Jean-Pierre Serre (* 15. September 1926 in Bages im französischen Département Pyrénées-Orientales) ist einer der führenden Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Er gilt als Wegbereiter der modernen algebraischen Geometrie, Zahlentheorie und Topologie. Serre ist Träger der Fields-Medaille und des Abelpreises. Die Fields-Medaille wurde ihm im Alter von 27 Jahren verliehen, womit er zum bislang (Stand 2022) jüngsten Preisträger dieser Auszeichnung wurde.

Leben

Serres Eltern waren Apotheker. Er ging auf das Gymnasium von Nîmes (Lycée de Nîmes), gewann 1944 den landesweiten Concours général in Mathematik und studierte von 1945 bis 1948 an der École normale supérieure in Paris. 1951 promovierte er an der Sorbonne. In dieser Zeit wurde er Mitglied des Mathematikerzirkels Nicolas Bourbaki. Von 1948 bis 1954 war er am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris tätig, zuerst als Attaché de Recherches und später als Maître de Recherches. 1954–1956 war er Maître de conférences an der Universität Nancy und war danach seit 1956 Professor am Collège de France in Paris (Lehrstuhl für Algebra und Geometrie). Seit 1994 hat er dort eine Ehrenprofessur.

Er war Gastprofessor unter anderem in Harvard und häufig am Institute for Advanced Study (zuerst 1955 bis 1957).

Zu seinen Hobbys zählen Skifahren, Felsklettern und Tischtennis.

1983 bis 1986 war er mit Ludwig Faddejew Vizepräsident der Internationalen Mathematischen Union, 1970 Präsident der Société Mathématique de France.

Jean-Pierre Serre (3. v. links) mit Josiane Serre (hinter ihm), René Thom (links) und anderen in Oberwolfach 1949

Er war mit der Chemikerin Josiane Heulot-Serre (1922–2004) verheiratet, der ehemaligen Direktorin der École normale supérieure de jeunes filles in Sèvres. 1949 wurde die gemeinsame Tochter Claudine Monteil geboren. Als feministische Autorin und Schriftstellerin schrieb sie Biographien von Simone de Beauvoir sowie von Charles Chaplin und dessen Frau Oona.

Der Mathematiker Denis Serre ist sein Neffe.

Werk

Schon im sehr jungen Alter war Serre einer der herausragendsten Schüler von Henri Cartan. Er beschäftigte sich in der Zeit um 1950 mit algebraischer Topologie und wandte Jean Lerays Spektralsequenzen auf die Faserbündel-Räume aus einem topologischen Raum X {\displaystyle X} als Basis und dem Raum der Wege in X {\displaystyle X} als Faser an (loop space method). So konnte er Beziehungen zwischen den Homologiegruppen in Faserbündel-Räumen sowie zwischen Homologie- und Homotopiegruppen finden. Die Anwendung in der Bestimmung der Homotopiegruppen von Sphären, einem notorisch schwierigen Gebiet, sorgte damals für Aufsehen (Dissertation 1951). Er bewies, dass die m {\displaystyle m} -te Homotopiegruppe der n {\displaystyle n} -dimensionalen Sphäre für m > n {\displaystyle m>n} endlich ist, außer für den Fall n {\displaystyle n} gerade und m = 2 n + 1 {\displaystyle m=2n+1} .

Nach einem Aufenthalt in Princeton 1952, wo er u. a. das Artin-Tate-Seminar über Klassenkörpertheorie besuchte, wandte er sich nach der Rückkehr nach Paris im Cartan-Seminar den dort aktuellen Themen Funktionentheorie mehrerer Veränderlicher und algebraische Geometrie zu, die er mit Hilfe von Jean Lerays Garbentheorie und den Methoden der algebraischen Topologie (Kohomologietheorie) auf ein neues Fundament stellte. Zunächst geschah das für gerade erzielte Resultate von Cartan und Oka in der Funktionentheorie mehrerer Variabler. Arbeiten über Verallgemeinerungen des Riemann-Roch-Theorems (die gleichzeitig Hirzebruch und Kodaira vorantrieben) 1953 führten ihn schließlich ab 1954 zur algebraischen Geometrie. Aus den Diskussionen im Cartan-Seminar Mitte der 50er Jahre entstand dann später der Grundstein für Alexander Grothendiecks Theorie der Schemata, auf dem Grothendieck und seine Schule die algebraische Geometrie neu aufbauten. Zwei der bekanntesten Artikel von Serre aus dieser Zeit sind FAC (Faisceaux Algébriques Cohérents, über die Kohomologie kohärenter Modulgarben) von 1955 und GAGA (Géometrie Algébrique et Géométrie Analytique) von 1956. Mit „analytischer Geometrie“ ist dabei die Funktionentheorie mehrerer komplexer Variabler gemeint. Bekannt ist der Dualitätssatz von Serre. Während der 1950er Jahre bis zum Ende der 1960er Jahre arbeiteten Grothendieck und Serre intensiv zusammen.

Von 1959 an beschäftigte sich Serre hauptsächlich mit der Zahlentheorie, speziell mit dem Ausbau der Galoiskohomologie für die Klassenkörpertheorie sowie den Galois-Darstellungen in der Theorie der elliptischen Kurven über den rationalen Zahlen. Hier formulierte er die Serre-Vermutung in der Theorie der „zweidimensionalen“ Darstellungen der „absoluten Galoisgruppe“. Das Ziel seiner Arbeiten war die formale Darstellung einer absoluten Galoisgruppe eines beliebigen Zahlkörpers, das heißt der Gruppe seiner Automorphismen. Deshalb werden spezielle Darstellungen (Wirkungsorte) dieser Gruppe untersucht, z. B. in den „ n {\displaystyle n} -Torsionspunkten“ (rationalen Punkten der Kurve, die n {\displaystyle n} -fach „addiert“ nach der Sekanten-/Tangentenmethode von Poincaré Null ergeben) elliptischer Kurven. Weil diese (da zweifach periodisch) geometrisch von der Gestalt eines Torus sind, spricht man von „zweidimensionaler Darstellung“. 1972 bewies Serre sein Open image theorem für elliptische Kurven E {\displaystyle E} (ohne komplexe Multiplikation) über algebraischen Zahlkörpern K {\displaystyle K} . Es besagt, dass die Darstellungen der Galoisgruppe von Körpererweiterungen von K {\displaystyle K} , die durch Hinzunahme der n {\displaystyle n} -Torsionspunkte E {\displaystyle E} gebildet wurden, in der Gruppe G L 2 ( Z / n Z ) {\displaystyle GL_{2}(\mathbb {Z} /n\mathbb {Z} )} „so groß wie möglich sind“.

Jean-Pierre Serre an der Sommerschule über die Serre-Vermutung am CIRM in Luminy, 19. Juli 2007

Er initiierte außerdem zusammen mit Nicholas Katz um 1972 die Theorie der p-adischen Modulformen.

Sein Buch A course in Arithmetic bringt auf knappem Raum sowohl eine Diskussion quadratischer Formen als auch der Theorie der Modulformen (mit Anwendung auf Gitter). Er erhielt dafür den Leroy P. Steele Prize.

Serre leistete auch einen wichtigen Beitrag in der Beweiskette, die von Gerhard Frey über Ken Ribet bis Andrew Wiles zum Beweis der Fermat-Vermutung führte.

Aus seiner Freundschaft mit Armand Borel resultierte auch sein Interesse für Lie-Gruppen und ihre Algebren, für diskrete Gruppen und ihre Geometrie sowie für Darstellungstheorie von Gruppen. Es war dann nur natürlich, dass er auch die gesammelten Werke von Ferdinand Georg Frobenius herausgab.

Serre ist auch für verschiedene Vermutungen bekannt. Neben der oben erwähnten Vermutung über Galois-Darstellungen zum Beispiel für eine Vermutung in der kommutativen Algebra, dass projektive Moduln über Polynomringen frei seien, die von Andrei Alexandrowitsch Suslin und Daniel Quillen unabhängig bewiesen wurde, siehe Satz von Quillen-Suslin.

Siehe auch

Auszeichnungen und Ehrungen

Er ist vielfacher Ehrendoktor: Cambridge (1978), Stockholm (1980), Glasgow (1983), Athen (1996), Harvard (1998), Durham (2000), London (2001), Oslo (2002), Oxford (2003), Bukarest (2004), Barcelona (2004), Madrid (2006), Mc-Gill University (2008).

Zitate

Schriften

Bücher:

Einige Aufsätze und Interviews:

Literatur

Weblinks

Commons: Jean-Pierre Serre – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen

  1. Für genügend große n {\displaystyle n} existiert eine surjektive Abbildung.

Einzelnachweise

  1. Der letzte Brief aus der Grothendieck-Serre-Korrespondenz, die 2001 durch die Societe Mathematique de France veröffentlicht wurde, stammt vom Januar 1969, um dann erst wieder mit einigen Briefen Mitte der 1980er Jahre fortgesetzt zu werden.
  2. In: Inventiones Mathematicae. Band 15, Nr. 4, 1972, S. 259–331.
  3. Serre: Formes modulaires et fonctions zêta p-adiques. In: Willem Kuijk, Jean-Pierre Serre (Hrsg.): Modular functions of one variable III. Proceedings International Summer School, University of Antwerp, RUCA, July 17 – August 3, 1972 (= Lecture Notes in Mathematics. 350). Springer, Berlin u. a. 1973, ISBN 3-540-06483-4, S. 191–268.
  4. Manfred Lindinger: Meister über alle Zahlen. Der Mathematiker Jean-Pierre Serre wird neunzig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 15. September 2016, S. 14.
  5. Interview mit Leong, Chong, Singapur 1985, some mathematicians have clear and far-ranging „programs“ … … I never had such a program, not even a small size one. I just work on things which happen to interest me at the moment.
  6. Interview mit Leong, Chong in The Mathematical Intelligencer 1986, I have a theory on this, which is that one should first discourage young people from doing mathematics. There is no need for too many mathematicians. But if after that they still insist on studying mathematics, then one should indeed encourage and help them. As for high school students, the main point is to make them understand that mathematics exists, that it isn’t dead (they have a tendency to think that the only open questions remaining are in physics and biology). The defect in the traditional way of teaching mathematics is that the teacher never mentions these questions. That’s a pity. There are many such, for instance in number theory, that teenagers could very well understand.
  7. Interview with Jean Pierre Serre, Fields Medal and Abel Prize Winner. In: ICM2006. Bulletin. 18, (online).
Fields-Medaille Träger der Fields-Medaille

1936: Lars Valerian Ahlfors, Jesse Douglas | 1950: Laurent Schwartz, Atle Selberg | 1954: Kodaira Kunihiko, Jean-Pierre Serre | 1958: Klaus Friedrich Roth, René Thom | 1962: Lars Hörmander, John Milnor | 1966: Michael Atiyah, Paul Cohen, Alexander Grothendieck, Stephen Smale | 1970: Alan Baker, Heisuke Hironaka, Sergei Nowikow, John G. Thompson | 1974: Enrico Bombieri, David Mumford | 1978: Pierre Deligne, Charles Fefferman, Grigori Margulis, Daniel Quillen | 1982: Alain Connes, William Thurston, Shing-Tung Yau | 1986: Simon Donaldson, Gerd Faltings, Michael Freedman | 1990: Vladimir Drinfeld, Vaughan F. R. Jones, Shigefumi Mori, Edward Witten | 1994: Jean Bourgain, Pierre-Louis Lions, Jean-Christophe Yoccoz, Efim Zelmanov | 1998: Richard Borcherds, Timothy Gowers, Maxim Konzewitsch, Curtis McMullen | 2002: Laurent Lafforgue, Wladimir Wojewodski | 2006: Andrei Okunkow, Grigori Perelman, Terence Tao, Wendelin Werner | 2010: Elon Lindenstrauss, Ngô Bảo Châu, Stanislaw Smirnow, Cédric Villani | 2014: Artur Ávila, Manjul Bhargava, Martin Hairer, Maryam Mirzakhani | 2018: Caucher Birkar, Alessio Figalli, Peter Scholze, Akshay Venkatesh | 2022: Hugo Duminil-Copin, June Huh, James Maynard, Maryna Viazovska

Träger des Abelpreises

2003: Jean-Pierre Serre | 2004: Michael Francis Atiyah, Isadore M. Singer | 2005: Peter Lax | 2006: Lennart Carleson | 2007: S. R. Srinivasa Varadhan | 2008: John Griggs Thompson, Jacques Tits | 2009: Michail Gromow | 2010: John T. Tate | 2011: John Milnor | 2012: Endre Szemerédi | 2013: Pierre Deligne | 2014: Jakow Grigorjewitsch Sinai | 2015: John Nash, Louis Nirenberg | 2016: Andrew Wiles | 2017: Yves Meyer | 2018: Robert Langlands | 2019: Karen Uhlenbeck | 2020: Hillel Furstenberg, Grigori Margulis | 2021: László Lovász, Avi Wigderson | 2022: Dennis Sullivan | 2023: Luis Caffarelli | 2024: Michel Talagrand

Träger des Wolf-Preises in Mathematik

1978: Israel Moissejewitsch Gelfand, Carl Ludwig Siegel | 1979: Jean Leray, André Weil | 1980: Henri Cartan, Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow | 1981: Lars Valerian Ahlfors, Oscar Zariski | 1982: Hassler Whitney, Mark Grigorjewitsch Krein | 1983/4: Shiing-Shen Chern, Paul Erdős | 1984/5: Kodaira Kunihiko, Hans Lewy | 1986: Samuel Eilenberg, Atle Selberg | 1987: Itō Kiyoshi, Peter Lax | 1988: Friedrich Hirzebruch, Lars Hörmander | 1989: Alberto Calderón, John Willard Milnor | 1990: Ennio De Giorgi, Ilja Pjatetskij-Shapiro | 1991: Nicht vergeben | 1992: Lennart Carleson, John Griggs Thompson | 1993: Michail Leonidowitsch Gromow, Jacques Tits | 1994/5: Jürgen Moser | 1995/6: Robert Langlands, Andrew Wiles | 1996/7: Joseph B. Keller, Jakow Grigorjewitsch Sinai | 1998: Nicht vergeben | 1999: László Lovász, Elias Stein | 2000: Raoul Bott, Jean-Pierre Serre | 2001: Wladimir Igorewitsch Arnold, Saharon Shelah | 2002/3: Mikio Satō, John T. Tate | 2004: Nicht vergeben | 2005: Grigori Alexandrowitsch Margulis, Sergei Petrowitsch Nowikow | 2006/7: Stephen Smale, Hillel Furstenberg | 2008: Pierre Deligne, Phillip Griffiths, David Bryant Mumford | 2009: Nicht vergeben | 2010: Shing-Tung Yau, Dennis Sullivan | 2011: Nicht vergeben | 2012: Michael Aschbacher, Luis Caffarelli | 2013: George Mostow, Michael Artin | 2014: Peter Sarnak | 2015: James Arthur | 2016: Nicht vergeben | 2017: Richard Schoen, Charles Fefferman | 2018: Alexander Beilinson, Vladimir Drinfeld | 2019: Jean-François Le Gall, Gregory F. Lawler | 2020: Simon Donaldson, Jakow Eliaschberg | 2021: Nicht vergeben | 2022: George Lusztig | 2023: Ingrid Daubechies

Normdaten (Person): GND: 142283126 | LCCN: n79060186 | NDL: 00456134 | VIAF: 66473477 |